Die Entheimatung der Dinge

Heute vor 40 Jahren veranstaltete der Aktionskünstler Reinhard Schamuhn in Hannover den ersten Trödelmarkt Deutschlands. Es war die Zeit des ersten Höhepunkts der konsumkritischen und gegenkulturellen Studentenbewegung. Als Vorbild hatte der bereits Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Pariser marché aux puces in Saint-Ouen gedient. Ein Essay

Der legere Umgang mit der Zeit hat im Trödelmarkt eine sichtbare Form angenommen Man könnte im Trödel- oder Flohmarkt ein Korrektiv zur kapitalistischen Warenwelt sehen

VON MAXIMILIAN PROBST

Dass wir in einer Epoche aberwitziger Beschleunigung leben, in einer Epoche, in der morgen schon veraltet ist, was gestern als der letzte Schrei, als das ultimativ Neue galt, diese Einschätzung hat längst das Feld spekulativer Kulturkritik verlassen und Eingang gefunden ins Allgemeinwissen: Die Zeit rast. Als Erfahrung ist sie so alltäglich geworden wie ihre Ursache ersichtlich: Es ist der Turbokapitalismus, der das Wettrüsten des Kalten Kriegs mit der Globalisierung zu einem Wettwirtschaften im Weltmaßstab ausgeweitet hat. Der Schrecken der Vernichtung ist dabei herabgesunken zum Schrecken, abgehängt zu werden.

Nun ist es nicht jedermanns Sache (fast niemandes Sache, sollte man meinen) zu schwitzen, zu hecheln und zu keuchen: Manch einer schätzt es vielmehr zu trödeln: einzuhalten, den Blick schweifen zu lassen, sich zu besinnen. Zwar sieht es dann so aus, als sei man zurückgefallen. Wer aber zurückfällt, kann das Feld gemächlich von hinten aufrollen.

Dieser legere Umgang mit der Zeit hat im Trödelmarkt, wie der Flohmarkt auch so treffend genannt wird, eine sichtbare Form angenommen. Nicht nur, dass vieles, was der Trödelmarkt zu bieten hat, aus dem Warenkorb der Konsumwelt herausgefallen, zerbrochen, beschädigt, überholt und unbrauchbar, kurz: vom Zeitlichen gesegnet ist; man muss auch viel Zeit mitbringen, will man dort etwas finden. Und wer nach dem Ausmisten seiner Wohnung auf Seiten der Anbieter steht, hat nach einem langen, nicht selten in Regen und Kälte verbrachten Tag meist weniger in der Tasche als sich in derselben Zeit in einem konventionellen Dienstleistungsverhältnis hätte verdienen lassen. So erscheint aus dem Blickwinkel einer praktisch-rationalen Lebensführung, wie ihn der Geist des Kapitalismus predigt, der Trödelmarkt als Widersinn: als Schule der Zeitverschwendung.

Ins Positive gewendet heißt das: Der Trödelmarkt ist eine Stätte der Begegnung. Zum einen, weil hier der Kauf immer auch Vorwand zum Gespräch ist – über Preis und Geschichte eines Stücks, wobei die Übergänge zum Gespräch über Geschmack und Person der Übereinkommenden fließend sind, zum anderen, weil die Trödelnden sich die Dinge weniger aneignen, als dass sie ihnen zufallen und zustoßen. Der Preis auf dem Trödelmarkt ist darum immer schon ein symbolischer, und gerade am Ende des Markttags zeigt sich, was er am Anfang manchmal verschämt verschweigt: dass es sich um einen Potlatch handelt, der den Götzen „Ware“ auf der Festwiese des öffentlichen Raums zertrümmert.

So kann es nicht verwundern, dass der erste Trödelmarkt in Deutschland, den der Aktionskünstler Reinhard Schamuhn vor genau 40 Jahren, am 23. Juni 1967 in Hannover veranstaltete, in die Zeit des ersten Höhepunkts der konsumkritischen und gegenkulturellen Studentenbewegung fiel. Wundern aber kann man sich, wie verspätet Deutschland wieder war. Als Vorbild hatte der bereits Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Pariser marché aux puces in Saint-Ouen gedient, bis hin zur wörtlichen Übersetzung seines Namens, der an die Flöhe gemahnt, die mit den Kleidungsstücken den Besitzer wechselten.

Prominenz erlangte dieser Flohmarkt durch die Surrealisten. Von dort stammte ein Großteil der undefinierbaren Dinge, die als objects trouvés in André Bretons Galerie und später in die Kunstgeschichte wanderten. Und nirgendwo sonst ließ sich das surrealistische Grundprinzip des dépaysement – die Entheimatung der Dinge, die sie mit dem Reiz einer ungewohnten Umgebung auflädt – natürlicher und vollkommener erfahren.

Dieses Verfahren restituiert die Würde des verworfenen Objekts. An die Stelle der Verführungskraft der gleißenden (Neu)Ware, die nach Marx auf der „Magie des Geldes“ beruht, setzt es die Magie der Dinge selbst. Man könnte deshalb im Trödel- oder Flohmarkt ein Korrektiv zur kapitalistischen Warenwelt sehen, von der er gleichwohl zehrt.

Wie Walter Benjamin in seinem Surrealismus-Essay herausgearbeitet hat, ging es Breton allerdings um mehr, nicht um ein Korrektiv, sondern um radikale Korrektur. Die Bevorzugung des Unzeitgemäßen und Unmodischen erschöpfte sich keineswegs in der Herausforderung des marktwirtschaftlichen Tauschwerts. Breton entdeckte vielmehr im démodé ein unrealisiertes Potential der Vergangenheit, revolutionäre Kräfte, die es für die Zukunft einzuspannen gälte. Daran konnte Benjamin nahtlos anschließen: mit seinem Geschichtskonzept, das die Gegenwart darauf verpflichtet, die Hoffnung der Vergangenheit einzulösen.

Zugegeben, die Realität des Flohmarkts sieht nicht erst heute, nicht erst seit ihn professionelle Händler als ein dem Fiskus entzogenen Absatzmarkt nutzen, seit ihn Hehlerwaren und chinesische Billigwaren, garantiert kinderfabriziert, überschwemmen, ziemlich anders aus. Ja: einen „Trödelmarkt“ im emphatischen Sinn hat es womöglich noch gar nicht gegeben. Zeit also, das Feld erneut von hinten aufzurollen.