Aggression aus Angst

ANTIKOMMUNISMUS Mit der Sowjetunion scheinen auch deren Gegner verschwunden zu sein. In Jena debattierten Historiker über eine Bewegung, die ziemlich finstere Seiten hatte

VON STEFAN REINECKE

Das „Reich des Bösen“, so Ronald Reagan, ist vor einem Vierteljahrhundert implodiert. Der Westen und die Demokratie haben gesiegt. Das erscheint im Rückblick wie eine Meistererzählung – der Triumph der Freiheit über die Tyrannei. Doch wenn man die antikommunistischen Bewegungen, die seit 1917 die Sowjetunion bekämpften, unter die Lupe nimmt, verdunkelt sich das Bild. Für schlichtes Gut-Böse-Raster taugt der „Antikommunismus in seiner Epoche“, so der Titel der Tagung in Jena, keineswegs.

Kaiser Wilhelm II. wusste im Februar 1918, was es mit der Oktoberrevolution auf sich hatte. Das russische Volk sei „der Rache der Juden“ anheimgefallen. Für die deutschen Freicorps, die wenig später marodierend durch das Land zogen und revolutionäre Aufstände niederschossen, war der Kampf gegen Juden und Kommunisten einerlei. Das Propagandabild des „jüdischen Bolschewismus“, mit dem die Nazis 1941 den Vernichtungskrieg im Osten rechtfertigten, hat ältere Wurzeln.

Die „enge Verzahnung des Antibolschewismus mit dem Antisemitismus“, so der Dubliner Historiker Robert Gerwarth, war keine deutsche Besonderheit. Dass die Revolution in Russland das Werk des internationalen Judentums war, schien ein Muster der Bewegungen von Rom bis Warschau zu sein. Trotzki, der in polnischen Zeitungen als „wilde jüdische Bestie“ karikiert wurde, Rosa Luxemburg, Kurt Eisner und Béla Kun waren die Beweise.

Von Frankreich bis in die USA bildeten sich nach 1917 Bewegungen, die durchweg an finstere, antimoderne Traditionen anknüpften. Manche sahen sich in der Tradition der Kreuzzüge, andere glaubten ein Bollwerk gegen die slawische Gefahr zu errichten. Erich Koehrer, ein rechter deutscher Sozialdemokrat, beschwor 1919 „die bolschewistische Pest, die wie die Cholera aus Asien kam“.

Es gab auch schon früh einen aufgeklärten, rationalen Antibolschewismus. So verfasste der Linkssozialdemokrat Karl Kautsky 1919 mit „Terrorismus und Kommunismus“ eine hellsichtige, vernichtende Kritik des Regimes in Moskau.

Doch die Kerntruppen des Antibolschewismus waren anders gepolt: Sie erschienen mitunter wie Zwillinge der Roten Armee. Sie waren gewalttätig, autoritär, verachteten das Zivile, Pragmatische, bürgerlich Maßvolle. Beide waren Vertriebene des alten Europa, das auf den Schlachtfeldern Flanderns und Ostpreußens untergegangen war. Aggression aus Angst, so lautet die psychodynamische Grundformel.

Ansturm des Heidentums

Nun mag man einwenden: Das ist ziemlich lange her. Doch ist es erstaunlich, so der Tübinger Historiker Anselm Doering-Manteuffel in einer Tour d’Horizon, wie prägend die Frühphase war. In der Bundesrepublik der 50er Jahre finden sich ähnliche Ressentiments. Nur der Antisemitismus ist von der Bühne verschwunden. CDU-Außenminister Heinrich von Brentano erklärte 1955 in Lechfeld, angesichts des 1.000-jährigen Jubiläums der Schlacht gegen die Ungarn, wie 955 wieder „die Massen des Ostens“ vor der Stadt lauerten. Damals wie jetzt drohe der Ansturm „des Heidentums“. Hier das christliche Individuum, dort die asiatische Masse. Diese Angstbilder waren eine projektive Verkehrung des Naziterrors in Osteuropa. Mit solchen Suggestionen fantasierten sich die Deutschen in die Rolle des Opfers. Sie dichten den Slawen/Kommunisten/Russen/Heiden an, was Wehrmacht und Einsatzgruppen ein paar Jahre zuvor dort angerichtet hatten.

Das Abendland gegen seelenlosen Kollektivismus, westliche Kultur gegen tumbe Masse. Diese Bilder erschienen seit 1917 wie wechselnde Kulissen im Theater – aber das Stück schien das gleiche zu bleiben. Nicht ganz. Ende der 50er Jahre wanderten die grellen ideologischen Versatzstücke des globalen Antikommunismus in den Hintergrund. Nachdem der hysterische Sturm der McCarthy-Ära verebbt, die Front in Korea befestigt war, begann etwas Neues – die Entspannungspolitik und damit Antikommunismus mit menschlichem Antlitz. In der Ära von Willy Brandt und John F. Kennedy, beide energische Gegner des Kommunismus, wurde der neurotische Antikommunismus zivilisiert. Dieser Prozess verlief nicht linear, eher im Wechsel von Sprüngen und Rückschlägen, wie dem fatalen von Kennedy initiierten Vietnamkrieg.

Auch der Kommunismus veränderte sich in den 50er Jahren: Die extreme Gewalttätigkeit, die aggressive Mobilmachung der Gesellschaft im Stalinismus verschwanden. Der Realsozialismus wurde stabil, bürokratisch und war defensiv auf Erhalt des Status quo gepolt. Diese Erstarrung und Zivilisierung färbte auf den Antikommunismus ab. Die Darsteller der Paranoia traten langsam von der Bühne ab. Der letzte Old-School-Antikommunist in den USA war, wenn man Thomas A. Schwartz, Historiker aus Nashville, glauben mag, Barry Goldwater in den 60ern.

Ein doppeltes Gesicht

Und Ronald Reagan, der wie ein evangelikaler Prediger das Böse im Kreml dingfest machte? Der Antikommunismus der 80er Jahre hat ein doppeltes Gesicht. Trotz der volltönenden Rhetorik fanden, anders als in den 50er Jahren, keine hysterischen Kampagnen gegen Feinde im Inneren, keine Säuberung in Hollywood statt. Als Reagan 1987 vor der Berliner Mauer „Mister Gorbatschow, tear down this wall“ rief, war das auch an die Falken in den USA adressiert, denen die Abrüstungspolitik der Reagan- Regierung zu weit ging. Dass Schwartz die von der CIA unterstützten Putsche in Chile und Nicaragua nonchalant zu normaler Geopolitik ohne antikommunistischen Drive erklärte, war mehr als kühn. In Jena fehlte der präzise Blick für den Antikommunismus der US-Machtpolitik: Von 1953 im Iran über Guatemala bis nach Nicaragua benutzte Washington Antikommunismus auch, um missliebige linksbürgerliche Regierungen zu zerstören.

Und nun? Ist Antikommunismus ein kultureller Code, der sich überlebt hat? Ist er mit seinem Feind untergegangen, ein geeignetes Objekt für historischen Fachdebatten? Sind die psychischen Energien, die Anfälligkeit für Hysterien, restlos in pazifizierten, aufgeklärten Liberalismus entsorgt? Es gibt zumindest mentale Reserven, die gelegentlich aufscheinen. Barack Obama jedenfalls wird für den zaghaften Versuch, in Richtung soziale Gerechtigkeit zu steuern, von der Rechten als „Klassenkämpfer“ denunziert. Dieses Bild, ein Synonym für unamerikanisch, stammt aus der Hochzeit des Antikommunismus. Wie in einem Zerrspiegel kehrt darin ein Ursprungsmotiv des Antikommunismus von 1917 wieder: Schutz des Eigentums vor der Revolution.

Vielleicht lässt sich im Rückblick lernen, wie Demokraten mit ihren Feinden umgehen sollten. Arthur Koestler, der mit „Sonnenfinsternis“ ein Glanzstück antistalinistischer Literatur schrieb, urteilte mal, dass die reaktionären Antikommunisten aus „den falschen Gründen recht hatten“, während die Liberalen, die im Sowjetreich nicht den Todfeind sehen wollten, aus „den richtigen Gründen Unrecht“ hatten. Am Ende zählte eben nur die Logik – dafür oder dagegen.

Hannah Arendt, die in „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ 1955 ein genaues Bild des Stalinismus entworfen hatte, wollte deshalb lieber nicht zu diesem Club gehören. Anti als Programm erschien ihr monochrom. Im dichotomischen Dafür oder Dagegen legte sich die offene Gesellschaft selbst Scheuklappen an.