Das Ende der Klassentrennung

An der Moses-Mendelssohn-Oberschule ist man stolz auf innovativen Unterricht und die Vermittlung sozialer Kompetenz. Diese Stärken will das Kollegium in das Projekt Gemeinschaftsschule einbringen

VON VEIT MEDICK

Man begreift schnell, was an der Moses-Mendelssohn-Oberschule (MMO) besonders ist. Die Pause nach der ersten Stunde hat gerade begonnen, da wird ein junges Mädchen von einer Mitschülerin mit Obst beworfen. Tränen fließen, Schimpftiraden schallen über den Schulhof – doch sofort ist ein Schlichter zur Stelle und führt die beiden ab. Im Flur gibt es ein Gespräch über Wut und Aggression, Schuld und Konfliktprävention. Noch vor dem Klingeln ist die Sache aus der Welt.

„Sicher ist der Ton an unserer Schule etwas rauer“, sagt Sabeth Schmidthals. Aber die Auseinandersetzungen an der Moabiter Gesamtschule seien nicht massiver als an anderen Gymnasien. Bemerkenswert für eine Schule, an der 50 Prozent eine Hauptschulempfehlung haben und vier von fünf Kindern migrantischer Herkunft sind. Man ist stolz auf die hauseigene Schlichtungsausbildung, an der seit Jahren ausgewählte Schüler und Lehrer teilnehmen.

Vielleicht ist es der Hang zu unkonventionellen Herangehensweisen, der die Schulleitung dazu veranlasst hat, sich für das Modellprojekt Gemeinschaftsschule zu bewerben. Vom Schuljahr 2008/09 an sollen in dem gepflegten Backsteinbau Kinder aller Leistungsstärken gemeinsam lernen.

Für viele Berliner Schulen ist das noch tabu – für Lehrerin Schmidthals, die Projektbeauftragte der Schule, ist das „die logische Folge unserer pädagogischen Einstellung“. Gerade in Moabit hätten Schulen nicht nur die Aufgabe, Fachwissen zu vermitteln, sondern seien „auch erzieherische Instanz“. Als Gesamtschule bündelt die MMO von Klasse 7 bis 10 schon jetzt Kinder unterschiedlichsten Niveaus. Ein Schwerpunkt liegt auf „handlungsorientiertem Unterricht“, wie Jutta Liesenfeld von der Schulleitung die praxisnahe Ausrichtung umschreibt. So bietet etwa die dreistündige Arbeitslehre Einblicke in die Bereiche Textil, Ernährung und Elektronik. Durch Kooperationen mit Gewerkschaften und Unternehmen können sich die SchülerInnen schon frühzeitig beruflich orientieren. „Das praktische Standbein ist uns sehr wichtig“, sagt Liesenfeld.

Außer im Fach Gesellschaftskunde wird bislang getrennt unterrichtet. Das soll sich jetzt ändern. Auch weil die Schulleitung hofft, durch den Status als Gemeinschaftsschule eine Oberstufe einrichten und damit SchülerInnen weitere Perspektiven bieten zu können: die Hochschulreife etwa, zumindest aber das Fachabi. Dazu müsste aber ein Gymnasium kooperieren. Und die übten sich in Zurückhaltung, sagt Liesenfeld: „Die haben Angst, ihren Ruf zu verlieren.“ Dabei würden Leistungsstarke doch auch in der Gemeinschaftsschule individuell gefördert, wundert sie sich. Allerdings auf Mikroebene, innerhalb einer Klasse. „Binnendifferenzierung“ heißt das im Fachjargon.

Zwei Grundschulen in der Nähe haben schon ihre Kooperationsbereitschaft erklärt. Mit ihnen will die MMO möglichst bald die Kooperation verstärken, um Kinder, die in Frage kommen, auf die Gemeinschaftsschule vorzubereiten.

Weder Eltern noch Schüler, nicht einmal das Kollegium hätte Vorbehalte gegen die Bewerbung als Gemeinschaftsschule gehabt. „Die Zustimmung in den Gremien ist mit großer Mehrheit erfolgt“, berichtet Schmidthals.

Völlig neu wäre das gemeinsame Lernen an der Gesamtschule nicht. Vor einigen Jahren sei fast eine komplette Klasse trotz unterschiedlichster Empfehlungen aus der benachbarten Grundschule an die Mendelssohn gewechselt, erinnert sich Liesenfeld. Bis zur zehnten Klasse seien die Kinder dann gemeinsam unterrichtet worden. „Am Ende gab es die besten Zensuren, die wir jemals vergeben haben“, schwärmt die Lehrerin.

Kollegin Schmidthals glaubt nicht an einen Einzelfall: „Europaweit ist doch offensichtlich, dass die Annahme, Kinder würden nur in homogenen Gruppen angemessen gefördert, nicht zutrifft.“ Vom gemeinsamen Unterricht profitierten nicht nur Spätentwickler, sondern auch Lernstarke – gerade bei sozialer Kompetenz. „Das werden auch die Gymnasien bald erkennen“, glaubt Schmidthals. Da könne der Senat ruhig auch ein bisschen nachhelfen und die Überzeugungsarbeit verstärken.

Auf dem Schulhof wissen nur die wenigsten von der Bewerbung. „Kein Plan“, sagt ein junger Türke. Aber das Gemeinschaftsschulprojekt beginnt ohnehin erst 2008 – wenn sich die MMO qualifiziert. Bleibt also noch etwas Zeit für Erklärungen.