Winnetou relifted

Die Karl-May-Festspiele haben einen neuen, jüngeren Winnetou-Darsteller. Aber das ist es nicht, was die Fans nach Bad Segeberg treibt. Die stören sich weder an den offensichtlich ungefährlichen Kämpfen noch an der mäßig überzeugenden Rhetorik: Schließlich besuchen sie ihre eigene Kindheit

aus BAD SEGEBERG CHRISTINA STEFANESCU

Samstag um halb sechs ist in der Nachbarschaft der Apachen die Welt noch in Ordnung. Der Lavendel wiegt sich im Wind, Rosenblüten recken sich gen Abendsonne. Die Einfahrten sind gekehrt, die Rasen gemäht, die Gardinen zugezogen. Backsteindoppelhaushälftenidyll.

Am Ende der Oldesloer Straße planen sie den Einfall. Aus dem Kreis Gifhorn sind sie mit sieben Wagen gekommen. Noch verschanzen sie sich zwischen Kofferraumklappen. Auf einen Campingtisch lagert die Marschverpflegung in Tupperdosen. Im Kofferraum sitzen die Kojoten in gebügelten Hemden, trinken sich mit Sekt und Bier Mut für den Sturm an. Um kurz vor sieben wird der übrig gebliebene Proviant verstaut – dann geht alles ganz schnell. Abmarsch.

„Immer geradeaus, die Straße runter“, sagt ein jugendliches Bleichgesicht mit grellorangener Warnweste am pubertierenden Leib. Keiner der Anwohner zieht die Gardinen zurück, als sich die Kolonne in Richtung Kalkberg schiebt. Vorbei am Reiki-Zentrum, vorbei am Nachtclub „Condor Club“. Neben dem Grüppchen aus Gifhorn stürmen jetzt an die 7.500 Menschen den Kalkberg hinauf. Für die Segeberger ist das Sommerroutine. Seit 1952.

In der 56. Saison spielen sie in Bad Segeberg Winnetous Abenteuer. In diesem Jahr Winnetou I. Die Geschichte ist schnell erzählt: Bleichgesichter bauen eine Eisenbahnstrecke durch den Wilden Westen. Der Schurke Santer will der eigenen Brieftasche zuliebe die Bahnstrecke durch das Land der Apachen abkürzen. Vermessungsingenieur Charly, schnell Old Shatterhand getauft, kommt den Plänen auf die Spur. Er befreit Winnetou und dessen Vater, den Indianerhäuptling Intschu-tschuna vom Marterpfahl eines mit Santer verbündeten Stammes. Old Shatterhand kann Winnetous Vertrauen gewinnen, die beiden werden Blutsbrüder. Das neue Bruder verliebt sich in Nscho-tschi, will mit ihr in die Städte der Bleichgesichter. Als Häuptling Intschu-tschuna die Mitgift aus einer Goldmine holen will, werden er und Nscho-tschi von Santer erschossen. Winnetou und Old Shatterhand wollen den Mörder finden.

Ohne die Karl-May-Festspiele wäre Bad Segeberg wohl nur ein Kurort-Fleck auf der Landkarte, den passiert, wer von Bad Oldesloe an die Plöner Seen fahren möchte. Eben da, aber nicht wirklich wichtig für Gesunde. Dank Karl May und seinen fiktiven Geschichten über den Wilden Westen, den er nie bereiste, auch nicht bei seiner einzigen Amerikareise 15 Jahre nach Veröffentlichung der Winnetou-Trilogie, kennt jedes Kind Bad Segeberg. Nicht, dass Winnetou und seine Abenteuer die einzige Attraktion wären. Es gibt noch Noctalis, die Höhlenwelt der Fledermäuse. Aber von Juni bis September stiehlt ihnen Winnetou die Show.

Herr Stolz, der mit Vornamen Meikel heißt, 39, wohnt seit 1982 gegenüber der Karl-May-Festspiele. Er steht vor seiner Haustür und schaut in Richtung der „Little Country Gentlemen“, die hinter dem Holzzaun des Festivalgeländes spielen. Die Countrymusik klingt wie durch eine Blechbüchse in die Welt getragen. Aber das macht nichts. Herr Stolz sagt, dass ihn das nicht störe. Musik würden sie ja immer nur zur Premiere spielen.

Die Stolzes haben sich mit den Festspielen arrangiert. Man parke sein Auto halt früher um, wenn man im Sommer abends noch weg wolle. Das Auto steht heute in der Einfahrt. Stolzes haben Freikarten. Wie jedes Jahr. Freikarten als Dankeschön für den wilden Westen im Vorgarten.

Drinnen drängen sich kleine wie große Winnetou-Fans in die Saloons und Andenken-Blockhütten, wo es Sheriff-Sterne für drei Euro gibt. Nscho-tschi-Perücken kosten 17. Wenige sind vollständig verkleidet und geschminkt wie Arlette Kootz, 20. Ihre langen, glatten Haare hat sie schwarz gefärbt. Sie trägt ein selbstgeschneidertes Lederkostüm, Fellstulpen mit Perlenbesatz. Sie und Vater Siegfried haben ihre digitale Spiegelreflexkamera mit Teleobjektiv in Position gebracht. Seit sieben Jahren fahren sie schon zu den Premieren von Fredersdorf bei Berlin nach Bad Segeberg. Vater Siegfried spricht vom Bazillus Winnetou. Die Tochter nickt.

Als die Akkorde der Winnetou-Titelmelodie erklingen und der Titelheld alias Erol Sander hoch zu Ross erscheint, drückt Siegfried Kootz auf den Auslöser. Blitzlichtgewitter von allen Seiten. Winnetou sieht aus wie geliftet. Bis 2006 verkörperte Gojko Mitic, mittlerweile 67, über 15 Jahre hinweg den Indianer. Sander ist 38.

Den Zuschauern in der Arena ist es egal, dass die Schläge bei den Kämpfen allzu offensichtlich neben die Gesichter zielen, dass die Sätze von Old Shatterhand oft aufgesagt klingen wie ein ungeliebtes Gedicht im Deutschunterricht. Die Faszination Winnetou umgibt die meisten seit der Kindheit. Sie haben die Bücher gelesen, die Filme mit Pierre Brice und Lex Barker gesehen. Sie johlen, als Old Shatterhand Nscho-tschi küsst und sie weinen beinahe, als Winnetou und das Bleichgesicht Blutsbrüder werden.

Und sie summen die Melodie mit, die im Hintergrund erklingt: Dadaaa, dadadadadadaaaaa, dadaaa, dadadadadadadaaaaa. Glücklich nehmen sie die Botschaft des neuen Häuptlings mit zum Ausgang: „Es gibt keinen Weg zum Frieden, denn nur der Friede ist der Weg.“ Dann beginnt der Krieg auf dem Parkplatz und den Straßen Bad Segebergs. Indianergruß und ab.

„Winnetou I‘‘ wird vom 23. Juni bis 2. September 2007 täglich von Donnerstag bis Sonntag im Freilichttheater am Kalkberg gespielt.