: WIR:HIER
Kapitel 4
Auch Matteo war mit dem Ergebnis des Goldstück-Gesprächs zufrieden. Dachte er jedenfalls so lange, bis er im Bett merkte, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Er konnte einfach nicht einschlafen. Schon zweimal hatte er das Licht wieder angeschaltet, ein bisschen im Handy gedaddelt und in seinem Notizbuch an einem Song herumgekritzelt. Nicht mal der Versuch, sich mithilfe des Physikbuchs müde zu lesen half. Er lag im Dunkeln und war stinksauer. Warum war es für die anderen ein Problem zu verstehen, dass es ihm wichtig war, unabhängig zu bleiben? Wenn sie beim Senatswettbewerb mitmachten, dann hätten sie sich kaufen lassen!
Er sah die Folgen ganz deutlich: Auseinandersetzungen über neue Songs, alle wären nur noch darauf aus, Mainstream zu spielen und der Masse zu gefallen, um möglichst viel Kohle zu machen, den gekauften Ruhm festzuhalten. Die Plattenfirma, die den Vertrag spendierte, würde der Gruppe zuallererst ein kommerzielleres Image verpassen, vorschreiben, welche Kleidung und Frisuren sie tragen müssen, in die Musik reinpfuschen, alle Ecken und Kanten glätten – über kurz oder lang wäre Goldstück eine komplett nichts sagende Band. Sie sind gerade dabei, in exakt die gleiche Falle zu tappen, wie schon Tausende vor ihnen. Das ist so bescheuert.
Gleichzeitig stiegen unwillkürlich alternative Szenen in ihm auf. Beim Gedanken an einen möglichen Sieg bekam er am ganzen Körper Gänsehaut, worüber er sich noch mehr aufregte. Er sah Goldstück auf einer großen Bühne, seine Finger tanzten mühelos über die Gitarrensaiten, vor ihm tausend Hände in der Luft, die im Rhythmus der Musik begeistert mitwippten. Laura kam mit ihrer Gitarre auf ihn zu, um bei seinem Solo von „Ausverkauf“ den Backgroundgroove zu spielen. Hier endete der Kopffilm. Von wegen Laura würde ihn begleiten! Gerade die. Sie würde eher versuchen, ihm das Solo wegzunehmen, ihn in den Hintergrund zu drängen, damit sie im Scheinwerferlicht steht. Laura hat ihnen das alles schließlich eingebrockt mit ihrer blöden Bewerbung, und die Realität, die sieht ganz anders aus. Sie würden in furchtbaren Einkaufszentren spielen, am Samstagvormittag im Alexa, oder für christliche Jugendbegegnungsstätten in Brandenburg, nach dem Gottesdienst noch zwei, drei softe Lieder, die niemanden aufregen. Wenn es hochkommt, würden sie vom Bundespräsidenten eingeladen, beim jährlichen Sommerfest im Schloss Bellevue aufzutreten. Was ungefähr aufs Gleiche hinausliefe wie ein Gig in einer evangelischen Begegnungsstätte.
Er knipste die Nachttischlampe erneut an. Mit dem Schlafen klappte es sowieso nicht. Er nahm „Empört Euch!“, ein kleines Heft von Stéphane Hessel, das er sich für einen Euro auf dem Flohmarkt gekauft hatte, in die Hand. Nur ein paar Seiten lang, aber Matteo fand darin viel von dem, was auch er dachte. Nur konnte Hessel das alles in Worte fassen, Zusammenhänge erkennen, während er höchstens mal einen Songtext hinwurschtelte und ansonsten nur ein unbestimmtes Gefühl hatte, dass das Leben irgendwie verkehrt läuft. Er las ein paar Seiten, bereits zum zweiten oder dritten Mal, einzelne Sätze und Passagen hatte er unterstrichen. „Neues schaffen heißt, Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt, Neues schaffen.“ Genau! Das war, was er mit Goldstück wollte, und nicht sich vom Staat päppeln lassen.
Zehn Minuten später ging es ihm besser, seine Augen wurden schwer, er löschte das Licht, und langsam wurden die Gedanken unscharf, verwirbelten sich zu Bildern, die keiner Logik mehr folgten. Bis ein Wort aufblitzte und ihn wieder zurückholte: Contest! Das hätte er lieber vergessen. Wie idiotisch war das denn? Das totale Kindergartending. Und Cem und Szusza natürlich sofort zugestimmt und ihm keine andere Wahl gelassen, als darauf einzugehen!
Matteo fielen frühere Mutproben ein. Er war neun oder zehn Jahre alt und kletterte auf das 10-Meter-Brett im Olympi, weil er von drei Freunden ausgelacht worden war. „Traust dich nicht, Angsthase, Pfeffernase!“ Er erinnerte sich genau an seine Angst zu springen. Ist er dann auch nicht. Oder wie er sich mit einer ziemlich stumpfen Rasierklinge in die Hand zu ritzen versuchte, um Svens Blutsbruder zu werden, da war er fünf oder vielleicht sechs Jahre. Er erinnerte sich an Mantel-und-Degen-Filme aus dem Fernsehen, ein Fehdehandschuh wird geworfen, und in der nächsten Einstellung duellierten oder florettierten sich zwei Edelmänner. Ja, das wär’s, dachte er. Ich und Laura fechten das im wahrsten Sinne des Wortes aus. En Garde!
Eines war aber ganz klar: Ihm müsste etwas echt Fettes einfallen. Laura würde sich wünschen, nie mit der Senatsgeschichte angefangen zu haben. Ihm würde schon eine Idee kommen, so leicht gab er sich nicht geschlagen. Nur was? Sie könnten einen Parkour- oder Freerunning-Wettbewerb machen – nur leider war Laura viel sportlicher als er – oder irgendwo eine Scheibe einschlagen bei einer Bank, oder sie müssen etwas echt Wertvolles klauen, oder sie … Plötzlich ein Geistesblitz! Warum ihm das nicht früher eingefallen war! Es war einfach perfekt!
Eine Minute später piepste der Wecker. Hatte er jetzt echt ein paar Stunden geschlafen? Müde schlurfte er ins Bad und duschte. Beim Zähneputzen checkte er neue Nachrichten, und während er in den Spiegel schaute und wieder mal darüber nachdachte, ob ihm ein Bart stehen würde, schrillte der Kalender. Mist, er brauchte den Kalender nicht anzutippen. Heute war Freitag, und das bedeutete, er schrieb in vierzig Minuten die Matheklausur. In achtunddreißig Minuten, um genau zu sein.
Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman: „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist im Verbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher aus unabhängigen Verlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de