berliner szenen Da fängt das Leben an

Das Altenheim

Zuerst war das Haus gegenüber ein Hotel, dann ein Asylantenwohnheim, und jetzt, nach einer langen Umbauphase, ein Altenheim. Seitdem ist es dort lauter als je zuvor. Die Altenheimbewohner machen dauernd Party. Samstags veranstalten sie Handarbeitsbasare mit Musikuntermalung, Sonntagmorgens feiern sie mit einer Blaskapelle Gottesdienst und schmettern Kirchenlieder, an drei Abenden die Woche haben sie Gesangsstunde –wahrscheinlich, um sich auf den Gottesdienst vorzubereiten. Und ab und zu laden sie sich einen Komödianten ein. Dann lässt ihr Lachen meine Fenster klirren.

Würde es sich bei dem Altenheim um eine Schule, einen Kindergarten oder den Proberaum einer Band handeln, hätten sich die Nachbarn schon längst beschwert. Aber bei den alten Leuten traut sich niemand. Jeder denkt: Die haben ja sonst nichts mehr im Leben. Haben sie aber. Zum Beispiel die Beobachtung der umliegenden Häuser. Ich sah Kissen auf Fensterbänken liegen, von denen aus die alten Damen stundenlang mit abgepolsterten Ellbogen die Umgebung beobachteten. Auch das ein oder andere Fernrohr habe ich schon hinter einer Gardine hervorlugen sehen. Dabei entdecken sie Dinge, die nicht mit ihren Moralvorstellungen einhergehen.

So klingelte neulich eine Altenheimbewohnerin bei meiner Vermieterin. Sie hatte sich dazu extra mit ihrem Rollator auf den Weg gemacht und teilte ihr mit: Ihre Mieterin – also ich – trinkt aus der Flasche! Meine Vermieterin erzählte mir die Begebenheit eher belustigt. Ich reagierte verstört. Wenn die alten Damen meine Mineralwasserflaschen erkennen können, dann sehen sie auch noch ganz andere Dinge. Ich kaufte mir dann keine Trinkgläser, sondern Gardinen.

SANDRA NIERMEYER