Zwischen Dominanz und Schwäche

70 Prozent der Opfer von alltäglicher Gewalt sind Jungs, die aber tun sich mit der Opferperspektive schwer. Das Bremer Jungenbüro hat deswegen ein Modellprojekt auf den Weg gebracht – und erstmals feste Räume. Heute ist offizielle Eröffnung

Er könnte 15 sein, vielleicht aber auch erst 13, den Kopf trägt er leicht erhoben – halb herausfordernd, halb kokett – die Lippen sind geschminkt, die Augenbrauen gezupft. Die rechte Hand, das ist auf dem Bildrand gerade noch zu erkennen, ruht auf seinem Schritt. „Geh mir nicht an die Wäsche“ steht auf seinem T-Shirt und über dem Foto „www.coole-jungs-sind-fit-im Haushalt“.

Die Homepage informiert über ein Projekt, mit dem das Bundesfamilienministerium „Neue Wege für Jungs“ eröffnen will. Das Plakat mit dem Jungen-Motiv hängt neben einem zusammen geklappten Kicker-Tisch in den Räumen des Bremer Jungenbüros, das heute offiziell eröffnet wird. Zwei Sozialarbeiter und ein Psychologe beraten dort Jungen ab acht Jahren und Männer bis 27 Jahre, die Opfer von Gewalt waren oder sind. Auch Eltern sowie Fachkräfte aus Kindergarten, Schule und anderen Einrichtungen können sich an die Informations-und Beratungsstelle in der Bremer Innenstadt wenden. Noch bevor die ersten Flyer gedruckt waren, kamen die ersten Anrufe, erzählt Rolf Tiemann. „Was können wir tun“, wollen Eltern wissen, deren Sohn in der Schule gemobbt wird, oder Kindergärtnerinnen, denen aufgefallen ist, dass sich ein Junge anders verhält als sonst, möglicherweise sexuell missbraucht wird. „Für die gab es bisher in Bremen nichts“, sagt Tiemann. Die Beratungsstelle „Schattenriss“ betreut nur Mädchen und Frauen, die Opfer von sexualisierter Gewalt wurden.

Wesentlich sei, dass im Jungenbüro nur Männer arbeiten würden, sagt Tiemanns Kollege Volker Mörchen. „Das ist wichtig, weil wir denen sagen können: Wir wissen, wie das ist, sich ohnmächtig zu fühlen, das ist okay und gehört zum Leben dazu.“ Sich in einer Opferrolle zu akzeptieren sei für Jungen immer noch viel schwerer als für Mädchen. Wenn ihnen dann noch immer wieder das Bild vom Jungen als Täter vorgehalten würde, verstärke sich der Eindruck, mit ihnen stimme etwas nicht. Tiemann: „In den Medien taucht immer der Junge auf, der andere verprügelt und das auf Video aufnimmt, aber niemand redet über die Opfer dieser Gewalt und das sind zu 70 Prozent auch Jungen.“

Noch weiter ist der Weg, den migrantische Jungen zurücklegen müssen, sagt der dritte Mitarbeiter des Büros, Erkan Altun, der sich selbst als „Deutsch-Türke“ bezeichnet. Als er türkischen Jungs von der Beratungsstelle erzählt habe, und dass die sich an Gewaltopfer wendet, hätten die spontan gesagt: „Aha, also nichts für Türken.“ Die hätten das Bild verinnerlicht, dass von ihnen Gewalt ausgeht, aber nicht, dass sie selbst eins auf die Mütze kriegen. Dabei habe er die Erfahrung gemacht, dass Jungen „wie ich selbst einer war, die keinen Stress“ machen, gar nicht als Türken wahrgenommen würden.

Vor acht Jahren gründeten Tiemann und Mörchen das Jungenbüro, boten als freie Trainer Kurse für Jungengruppen an zu Sexualität, Lebensplanung, sozialer Kompetenz und Selbstbehauptung. Immer wieder seien Jungen oder Eltern auf sie zugekommen und hätten von Problemen mit Mitschülern oder Missbrauchserlebnissen erzählt, sagt Mörchen. „Wir hatten aber weder die Räume noch das Personal, um uns darum zu kümmern.“ Für zumindest zwei Jahre können sie die Lücke jetzt schließen: Das Modellprojekt wird von einer Bundesstiftung unterstützt, das Land Bremen gibt einen kleinen Teil dazu, ein Fünftel müssen sie selbst erwirtschaften. Danach müsse Bremen auch finanzielle Unterstützung sicherstellen, findet Mörchen.

„Eine Redekultur wie bei Mädchen gibt es nicht“, hat Mörchen festgestellt. Was aber nicht bedeuten würde, dass alle Jungen ratlos vor ihm sitzen und den Mund nicht aufkriegen. „Manche können das gut, anderen fällt es leichter, dabei etwas zu spielen.“ Andere wiederum würden erst mal fragen: „Warum passiert mir das, kennst du das auch, warum geht‘s mir so, wie‘s mir geht, warum hat der das mit mir gemacht?“

Manche Fragen können sie aus eigener Erfahrung beantworten, sagt Mörchen. „Ich glaube, wir alle drei haben lebhafte Erinnerungen daran, wie es als Junge war, beides in sich zu haben: Dominanz und Schwäche.“ In ihrer Arbeit wollen sie deshalb Jungen auch nicht begrenzen, sondern ihnen die Möglichkeit geben, ihr „Verhaltensrepertoire zu erweitern“. Man könne dazu auch Fußball spielen und zeigen, dass es nicht immer darum gehen muss, der Beste zu sein, sagt Atun. „Es kann einfach schön sein, etwas gemeinsam geschaffen zu haben.“ EIKEN BRUHN

Bremer Jungenbüro, Schüsselkorb 17/18 ☎ 0421. 59 86 51 60