Leiser Rückzug

GRÜNE Der Politologe Franz Walter und seine Mitarbeiter haben ihre Sicht auf den Pädophilie-Beschluss der Ökopartei en passant revidiert

■ ist Ressortleiter Inland der taz. Der Abschlussbericht von Walter, Klecha und Hensel ist unter dem Titel „Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte“ bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen.

Unter führenden Grünen-Funktionären gilt die Entscheidung, Franz Walter mit der Aufarbeitung der eigenen Pädophilie-Positionen zu betrauen, als eine der dümmeren der Parteigeschichte. Der Göttinger Professor für Politikwissenschaften, ein linker Sozialdemokrat, habe damit die Chance bekommen, den Grünen im Wahlkampf 2013 eins auszuwischen, lautet der interne Tenor. Walter selbst sprach kürzlich im Zeit-Interview davon, dass die Grünen zu der Zeit, als er noch bei den Jusos aktiv war, immer den „Hochmut des Linksliberalen“ gepflegt hätten: „Da gebe ich zu, dass es mir eine gewisse Befriedigung bereitet, wenn sie mal von ihrem hohen Ross runtermüssen.“ Aber er denke nicht, dass die Untersuchung „von dergleichen biografischen Reserven“ geleitet worden sei.

Viel Naivität bei den Gründern

Der Abschlussbericht, den Walter und seine Mitarbeiter in der letzten Woche veröffentlicht haben, ist eine lesenswerte Arbeit geworden. Stephan Klecha, der den Abschnitt über die Grünen-Geschichte verfasst hat, nennt vier Gründe, warum Pädosexuelle in der Anfangsphase der Partei Einfluss erlangen konnten: die Minderheitenaffinität der Grünen, ihre „Idealvorstellung“, nach der „der individuellen Entfaltung keine Grenzen gesetzt zu werden brauchten“, die Idee von Sexualität als Element einer befreiten Gesellschaft, dazu eine alternative Wissenschaftsgläubigkeit.

En passant revidiert Klecha die Einschätzung des wichtigsten Beschlusses der Grünen zur Pädophilie vom Saarbrücker Bundesparteitag 1980. Noch mitten im Bundestagswahlkampf, am 12. August 2013, hatten Walter und Klecha mit einem ganzseitigen FAZ-Artikel („Distanzierungstango in der Pädofrage“) für Aufsehen gesorgt, in dem sie einen Beschluss des Parteitags aus den Archiven zogen, die Pädophilenparagrafen 174 und 176 des Strafgesetzbuchs zu ändern: „Die Forderung nach einer Entkriminalisierung von Pädophilie fand 1980 sogar Eingang in das Grundsatzprogramm der neuen Partei“, überschrieb die FAZ den Artikel. Das sorgte für erheblichen Wirbel. Schließlich war bis dato nur von pädophilenfreundlichen Beschlüssen im NRW-Wahlkampf 1985 die Rede gewesen, jetzt konnte aber kurz vor der Wahl die gesamte Partei in Haftung genommen werden.

Tatsächlich aber war die Beschlusslage von Saarbrücken komplizierter. Trotzdem war der Parteitag kein Ruhmesblatt für die grüne Gründergeneration. Die Programmkommission hatte einen Abschnitt zur Annahme empfohlen, wonach die Strafrechtsparagrafen 174 und 176 so gefasst werden sollten, „dass nur Anwendung oder Androhung von Gewalt oder Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses bei sexuellen Handlungen unter Strafe zu stellen sind“. Damit wäre ein angeblich einvernehmlicher Geschlechtsverkehr von Erwachsenen mit Kindern nicht mehr strafbar gewesen. Der Parteitag nahm den Absatz ohne große Debatte an.

Am Tag danach besetzte aber eine Gruppe um den erzkonservativen Biobauern Baldur Springmann das Podium und verlangte, mehrere Beschlüsse wieder aufzuheben, darunter auch den zur Pädofrage. Unterstützung erhielt Springmann von dem früheren CDU-MdB Herbert Gruhl. Nach langen Verhandlungen, an denen auch Anwalt Otto Schily und der Hamburger Schwulenaktivist Corny Littmann beteiligt waren, einigte sich der Parteitag auf einen Kompromiss. Der beschlossene Abschnitt wurde durch eine Erläuterung ergänzt: „Zu diesem Beschluss konnte leider auf dem Parteitag nicht gemeinsam diskutiert werden. Auch an der Parteibasis ist diese Frage bisher teilweise nicht oder nur wenig diskutiert worden. Dies ist weder im Sinne der Betroffenen noch der Antragsteller, noch der Partei insgesamt. Deshalb meinen wir, dass Abs. 521 folgendermaßen zu verstehen ist: er ist ein Auftrag an die Partei in allen Gliederungen, sich mit den Auswirkungen dieser Straftatbestände intensiv auseinanderzusetzen. Durch diesen Auftrag ist das Ergebnis dieser Diskussion natürlich nicht festgelegt.“

Was für eine Formulierung! Forderten die Grünen damit noch die Änderung der Pädophilenparagrafen – oder nicht mehr? Walter und Klecha legten sich im August 2013 noch eindeutig fest: „Die Grünen signalisierten dadurch Offenheit, setzten den Beschluss als solchen aber in Kraft. Er blieb es bis zur Fusion mit Bündnis 90 im Jahr 1993.“

Quadratur des Kreises

In Saarbrücken retteten damals konservative Ökologen die Grünen vor einer pädophilenfreundlichen Beschlusslage

Jetzt, im Abschlussbericht, hat Klecha seine Beurteilung der Beschlusslage entscheidend verändert: „Was den Grünen gelungen war, entsprach der Quadratur des Kreises: Die ursprünglich schon verabschiedete Forderung blieb an dieser Stelle der Form nach erhalten, wurde zugleich aber nicht nur relativiert, sondern letztlich grundlegend in Frage gestellt. Man hatte den Text damit weder aufgehoben noch ihn zum Präjudiz der weiteren Debatte gemacht. […] Insgesamt konnten darüber Unterstützer wie Opponenten ihre Interessen wahren. […] Jene, die dagegen opponierten, verwiesen darauf, dass die Textpassage ja gerade keine Programmaussage mehr darstellte, sondern erst einmal suspendiert worden war.“ Mit dieser differenzierten Sicht wären vor der Wahl 2013 kaum Schlagzeilen zu machen gewesen – auch wenn der Saarbrücker Parteitag für die Grünen immer noch peinlich genug ist: Gerettet vor einer eindeutig pädophilenfreundlichen Beschlusslage hatten sie vor allem Springmann und Gruhl, die bald darauf die Partei verließen, weil sie ihnen zu links geworden war.

Natürlich muss man die voreilige Analyse vom August 2013 Walter und Klecha anlasten. Aber die Grünen haben die beiden mit ihrem Auftrag, jede Entdeckung jederzeit publizieren zu dürfen, auch dazu verführt. Der Wunsch danach, mit nichts hinter dem Berg zu halten, mag dahintergestanden haben. Als Ergebnis aber passierte das Gegenteil: Auf die Frage, warum sie der Walter/Klecha-Version damals nicht widersprochen hätten, antwortete ein führender Grünen-Mitarbeiter: Das hätte danach ausgesehen, die eigene Verantwortung relativieren zu wollen. Statt einer offenen Aufarbeitung dominierte daher allein Walters und Klechas Sicht den Wahlkampf.

Mit ihrer Wissenschaftsgläubigkeit hatten sich die Grünen 33 Jahre nach Saarbrücken noch einmal selbst ins Knie geschossen. MARTIN REEH