Kritische Masse

Trotz Atomausstieg wird in Baden-Württemberg weiter an der Erforschung neuer Reaktorsysteme gearbeitet. Alles andere wäre „ein Frevel“, sagt das europäische Institut für Transurane in Karlsruhe. Ein neues Labor für den Umgang mit Uran und hochgiftigem Plutonium weckt das Misstrauen der grün-roten Landesregierung und der Bevölkerung vor Ort

von Meinrad Heck

Manchmal kommt der Präsident des Bundeskriminalamts zu Besuch. Hinter dicken Stahlbetonmauern des Instituts werden dann sogenannte heiße Zellen besichtigt und Details erörtert, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Es geht um Terrorabwehr, um den illegalen Handel mit atomarem Material und darum, wie man ihn verhindern kann. Im Norden Karlsruhes, auf dem Gelände des riesigen Forschungszentrums, arbeiten die sogenannten Atomdetektive.

300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des europäischen Instituts für Transurane (ITU) sind darauf spezialisiert, selbst aus winzigsten Mengen spaltbaren oder radioaktiven Materials dessen Herkunft zu bestimmen. Proliferation, also der illegale Handel mit atomarem Material, meist aus den ehemaligen Sowjetstaaten, ist der Albtraum jeden Terrorfahnders. Das Zeug kann aus Uraltreaktoren stammen oder aus Atomwaffenbeständen. Aber jeder dieser Stoffe hat eine Art Fingerabdruck. Den suchen die Karlsruher Forscher. Meist finden sie ihn mit ihren ausgeklügelten Messmethoden oder in ihren riesigen Datenbanken. Dann wäre die Spur zum Ursprung gelegt, und die Terrorfahnder wären einen riesigen Schritt weitergekommen.

Die Forscher des Instituts für Transurane genießen deshalb in der Fachwelt einen exzellenten Ruf. In der Öffentlichkeit werden sie fast ausschließlich als die Atomdetektive wahrgenommen. Ihre Arbeit gilt als unverzichtbar und eigentlich über jeden Zweifel erhaben. Ihr Institut im Karlsruher Norden ist ein Hochsicherheitstrakt hinter Nato-Stacheldraht und meterdicken Stahlbetonmauern. Und weil die Forscher einen neuen Labortrakt bauen wollen, ist ihre Arbeit steht ein paar Wochen urplötzlich wieder im Fokus einer diesmal etwas kritischeren Öffentlichkeit.

Das liegt an einem 118 Seiten dicken Papier, das an eine eingeschränkte Öffentlichkeit geraten ist. In dem Bauantrag ist aufgeschlüsselt, was die Forscher bauen wollen, woran, womit und wie sie arbeiten. Dieser Bauantrag liegt bei Behörden und Gemeinderäten benachbarter Kommunen, und er sorgt für Ärger.

Denn das Papier schlüsselt auf, dass im Institut für Transurane eben nicht nur die so spektakuläre Atomdetektei arbeitet, sondern dass der Begriff der „Nuklearen Sicherheit“, der sich das Institut verpflichtet sieht, weiter gefasst ist. In Karlsruhe wird zum Beispiel auch die „Endlagerung abgebrannter Kernbrennstoffe“ untersucht oder an der „Entwicklung geschlossener Brennstoffkreisläufe für zukünftige Reaktorsysteme der vierten Generation“ gearbeitet. Damit ist für eine kritische Öffentlichkeit und eine grün-rote Landesregierung der Konflikt vorprogrammiert. Denn welche „zukünftigen“ Reaktorsysteme sollte es nach einem Atomausstieg noch geben?

Der Atomausstieg ist eine deutsche Angelegenheit. Das jetzt plötzlich so misstrauisch beäugte Institut für Transurane arbeitet aber auf europäischer Ebene, „unabhängig von nationalen Interessen“, sagt sein Leiter Thomas Fanghänel im Gespräch mit der Kontext:Wochenzeitung. Ein Verzicht auf Forschung wäre „ein Frevel“, sagt er. Es wäre, „als ob Sie einfach die Augen zumachen“.

Bis zu 180 Kilogramm hochgiftiges Plutonium

Fanghänels Institut verfügt über einen Jahresetat von 45 Millionen Euro. Bis zu 8 Millionen Euro kommen aus Drittmitteln, wozu auch Spenden aus der Atomindustrie zählen. Laut dem Institutsleiter etwa auch von dem französischen Atomkonzern Areva, der weltweit Milliardenumsätze einfährt und Teile des japanischen Katastrophenreaktors Fukushima errichtet hat. Die Arbeit für Areva läuft unter der Überschrift „Sicherheit von Kernbrennstoffen“. Die ITU-Wissenschaftler arbeiten an einem Verfahren, den in den Reaktoren eingesetzten Brennstoff möglichst vollständig zu verbrennen und damit den Wirkungsgrad zu erhöhen.

Für helle Aufregung sorgte auch ein Passus in dem Antrag auf Baugenehmigung, der sich mit der Menge von radioaktiven Stoffen befasst, mit der die Karlsruher jährlich bereits umgehen. Unter anderem 180 Kilogramm Plutonium. Das treibt Kritikern die Schweißperlen auf die Stirn, und Thomas Fanghänel hat alle Mühe, die Geschichte zu relativieren.

Es geht bei dieser Zahl um eine „Umgangsgenehmigung“. Soll heißen, das Institut darf pro Jahr mit „maximal“ 180 Kilogramm Plutonium umgehen. Diese Menge sei noch nie erreicht worden, sagt der Institutsleiter. Aber in Zeiten terroristischer Bedrohung unterliegen genaue Zahlen der Geheimhaltung. Beobachter schätzen die Menge von Plutonium auf „höchstens 10 Prozent“ der im Antrag angegebenen Menge.

Der vorgesehene Bauplan liest sich wie die Anleitung zur Errichtung eines Hochsicherheitstrakts. Außenwände aus 180 Zentimeter dickem Stahlbeton, laut Angaben des Instituts ausreichend auch zum Schutz vor gezielten Flugzeugabstürzen. Im Inneren strengste Vorschriften „zur Vermeidung von Kritikalität“. Ab einer Menge von 509 Gramm Plutonium kann ein kritischer Zustand erreicht sein, bei dem eine Kettenreaktion beginnt. Plutonium darf deshalb nur in Einzelchargen von maximal 230 Gramm gelagert werden und auch nur in Behältnissen, die den freien Neutronenfluss und damit den denkbaren Beginn einer Kettenreaktion „sicher ausschließen“. Das alles soll „und wird“, sagt Thomas Fanghänel, gewährleistet sein.

Nicht alle Bedenken lassen sich damit zerstreuen. Es ist die Geschichte des riesigen Forschungszentrums im Karlsruher Norden, die sich in den Köpfen festgesetzt hat. Zwar gilt das an die Münchner Helmholtz-Gesellschaft angegliederte Zentrum als ein Nabel der Forschungswelt, wo es bahnbrechende Entwicklungen in der Nanotechnologie gegeben hat. Dass heutzutage USB-Sticks aberwitzige Datenmengen auf winzigstem Raum speichern können, ist auch den Forschern im Karlsruher Norden zu verdanken. Vor drei Jahren fusionierte das Zentrum mit der örtlichen Universität zum Karlsruher Institut für Technologie (KIT) – ein Teil der sogenannten Exzellenzinitiative. So steht die Qualität des Zentrums zumindest in wissenschaftlichen Kreisen außer Frage.

In der Erinnerung festgesetzt haben sich aber auch spektakuläre Fehlschläge, vor allem aus der Zeit, als das Zentrum noch Kernforschungszentrum Karlsruhe genannt wurde. Damals hatte man dort an einer Wiederaufarbeitungsanlage gearbeitet. Das Atomzentrum wird in der Öffentlichkeit außerdem in Verbindung gebracht mit dem Bau eines Versuchsreaktors, nämlich eines schnellen Brüters in den 60er Jahren, als der Siegeszug der Kernenergie begonnen hatte; außerdem mit dem maroden Salzbergwerk Asse in Niedersachsen, das heute als eine der problematischsten Atomanlagen Europas gilt und dessen 127.000 Fässer Atommüll zur Hälfte aus Karlsruhe stammen. Die Karlsruher Atomforscher hatten sich als Lobby der Atomindustrie begriffen. Die Asse wurde öffentlich als Forschungsbergwerk verkauft, in internen Dokumenten aber zeitgleich als „Endlager“ bezeichnet.

Später folgte in Karlsruhe der Ausstieg aus der Atomforschung. Die Anlage zur Wiederaufarbeitung und der schnelle Brüter wurden und werden für Milliarden Euro abgerissen oder – wie von Werbestrategen formuliert – „zur grünen Wiese zurückgebaut“. Dabei gelang einem Arbeiter das eigentlich Unmögliche. Er schmuggelte vor Jahren aus der so streng gesicherten Anlage ein Fläschchen plutoniumhaltiger Flüssigkeit heraus und sorgte für einen handfesten Skandal.

Beim Rückbau geht es um Milliardensummen. Viele Menschen entscheiden über die Vergabe lukrativer Aufträge. Jahrelang hielten sich auch Korruptionsgerüchte, und tatsächlich wurde die Staatsanwaltschaft offensichtlich fündig. Zwei Exmanager des Forschungszentrums Karlsruhe und zwei Exmitarbeiter eines schwedischen Entsorgungskonzerns wurden wegen Korruptionsverdachts angeklagt (siehe „Ein peinlicher Verdacht“ auf www.kontext-wochenzeitung.de).

Nicht nur bahnbrechende Forschungen bleiben also im Gedächtnis, sondern auch die Tricks, Lügen und Pannen. Sie machen misstrauisch. Das Institut für Transurane wird dem Forschungszentrum zugerechnet, obwohl es von den genannten Skandalen ausdrücklich nicht betroffen war. Misstrauisch macht, warum die Forscher nicht nur die, wie sie es nennen, „Sicherheit und Sicherung“ von Kernbrennstoffen im Blick haben, sondern auch im industriellen Auftrag an der Entwicklung von Brennstoffkreisläufen arbeiten, die im Zeitalter des (deutschen) Atomausstiegs scheinbar keinen Sinn mehr machen.

Die Suche nach illegal gehandeltem Spaltmaterial ist eine Säule der Institutsarbeit. Die andere Säule sind die „Reaktoren der vierten Generation“ und die sogenannte Transmutation. Diese könnte für die Atomlobby und die Politik ein Ausweg aus der Atommüll- und der immer noch ungelösten Endlagerproblematik sein. Wenn auch nur in der Theorie. Theoretisch können Reaktoren der vierten Generation langlebige Spaltprodukte – etwa Plutonium 239 mit einer Halbwertszeit von über 24.000 Jahren – in kurzlebige mit einer Halbwertszeit von nur noch wenigen hundert Jahren umwandeln.

In der Theorie klingt diese Transmutation faszinierend. Ein schneller Neutronenfluss spaltet Atomkerne und wandelt langlebige in kurzlebige Spaltprodukte um. Das Entsorgungsproblem wäre deutlich entschärft, und damit wären neue Begehrlichkeiten in der Atomindustrie nicht ausgeschlossen.

Das außerordentlich komplizierte technische Verfahren birgt jedoch – wenn es denn je im industriellen Maßstab funktionieren sollte – hohe Risiken. Denn entscheidend ist die Geschwindigkeit des Neutronenflusses. In herkömmlichen Druckwasserreaktoren bremst das Kühlwasser diesen Fluss. Kernreaktoren der vierten Generation, etwa ein schneller Brüter, arbeiten nicht mehr mit dem Bremsklotz Wasser, sondern mit flüssigem Natrium als Kühlmittel. Das macht die hohen Geschwindigkeiten und damit die Transmutation zumindest theoretisch möglich.

Aber auch dann muss die Energie in Strom umgewandelt werden. Vereinfacht gesagt, nimmt das Kühlmittel Natrium die Energie aus der Kernspaltung auf und gibt sie über einen Wärmetauscher an einen Wasserkreislauf ab. Es entsteht Wasserdampf, der treibt eine Turbine, und die erzeugt den Strom. Das Risiko: Flüssiges Natrium explodiert, sobald es mit Wasser in Berührung kommt.

Umweltminister Untersteller schaltet sich ein

Vor diesem kritischen Hintergrund läuft die Debatte über eine Baugenehmigung für ein neues ITU-Labor in Karlsruhe. Europäisches Recht verträgt sich nicht immer mit deutschem Recht. Anliegergemeinden verweigern eine Genehmigung und wollen vor Gericht klagen. Die Emotionen kochen hoch, und weil das so ist, hat vor Kurzem der grüne Landesumweltminister eingegriffen. Franz Untersteller möchte ein Mediationsverfahren unter Leitung des Öko-Instituts Darmstadt. Er will Akzeptanz durch Transparenz, und er will „die Situation entkrampfen“.

Bei dem Streit geht es um den Plan, ein neues Labor- und Lagergebäude auf dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik und unter Berücksichtigung der neuesten Sicherheitsstandards zu errichten. Vorrangiges Ziel dabei sei, sagt Untersteller, den Sicherheitsstatus des ITU „deutlich zu verbessern“. Dies soll erreicht werden, indem ein großer Anteil der in den bestehenden alten Betriebsbereichen vorhandenen Kernbrennstoffe und sonstigen radioaktiven Stoffe künftig im geplanten Spaltstofflager im neuen Gebäude gelagert wird.

Untersteller will die Arbeit des Instituts „sehr genau beobachten“. Die Aufgabe der Forscher sei es nicht, an der Weiterentwicklung der Kernenergie, insbesondere an der sogenannten vierten Generation von Druckwasserreaktoren, zu arbeiten. Auftrag des Instituts sei es vielmehr, zum einen die Sicherheit in kerntechnischen Anlagen zu verbessern, solange sie noch betrieben würden, zum anderen die Endlagerforschung voranzutreiben. Das Mediationsverfahren wird öffentlich sein. Ende Juli will Untersteller dem ITU einen Besuch abstatten.