Das Sparbuch für mittellose Griechen

POLIS? Klientelismus, Gewalt, Nationalismus – der Schriftsteller Petros Markaris über eine „Politik der reifen Frucht“, die Griechenland ruiniert. Und eine Europäische Union, die sich unfähig zum politischen Handeln zeigt

„ ‚Konsens‘ ist ein Fremdwort: Das griechische System ist seit dem Bürgerkrieg auf Konfrontation gebaut“

VON PETROS MARKARIS

Anfang der fünfziger Jahre hatte Königin Friederike von Griechenland, die Mutter von Königin Sofia von Spanien, „das Sparbuch für mittellose Mädchen“ eingeführt. Das Sparbuch war als eine Art Mitgift für die Töchter armer Familien gedacht. Es waren die ersten Jahre nach dem Bürgerkrieg, und das Land war arm und rückständig. Es gab nicht einmal genug Arbeitsplätze für Männer, geschweige denn für Frauen. Junge Mädchen hatten nur die Perspektive auf Heirat und Familie. Sie konnten aber ohne Mitgift nicht heiraten, wenn die jungen Männer nicht genügend Mittel besaßen, um aus eigenen Kräften einen Haushalt zu gründen. Nicht jede Familie bekam das Sparbuch für ihre Tochter. Es gab eine Reihe von Voraussetzungen. Die wichtigste davon war die „nationale Gesinnung“ einer Familie.

Sechzig Jahre später leben die Griechen vom „Sparbuch für mittellose Griechen“, das die EU eingeführt hat. Doch auch dieses Sparbuch ist an Bedingungen geknüpft. Die wichtigste ist das Sparpaket, das Ende Juni vom Parlament in Athen bewilligt wurde und innerhalb von zwei Monaten umgesetzt werden muss. Ob Sparbuch oder Sparpaket, die Griechen müssen wieder das Sparen lernen. Nicht nur die Bürger, sondern vor allem der Staat. In den letzten dreißig Jahren wurde der marode Staatsapparat, der bis heute enorme Ressourcen auffrisst, zunehmend zum Hauptproblem der griechischen Misere, bis er das Land in die totale Lähmung trieb.

Es ist nicht wahr, dass 10 Millionen Griechen korrupt sind, wie viele Ausländer, vor allem Deutsche, behaupten. Wahr ist, dass die zwei Regierungsparteien – Pasok (Mitte-links) und Nea Dimokratia (Mitte-rechts) – in den letzten dreißig Jahren ein riesiges Klientelsystem aufgebaut haben. Dieses System hat nicht nur den Staat zugrunde gerichtet, sondern auch jene Teile der Bevölkerung, die in diesen dreißig Jahren die Triebkraft von Gesellschaft und Wirtschaft waren. Sie haben unter diesem System am stärksten gelitten.

Sanieren und reformieren

Eurozone und IWF haben das Sparpaket durchgesetzt. Angeblich weil der Staat saniert und reformiert werden muss, um Geld und Ressourcen bereitzustellen, die das Land dringend braucht. Mit dem Sparpaket greift die Regierung wieder zur altbewährten Lösung: Es kommen neue Steuererhöhungen. Sie müssen zum dritten Mal binnen fünfzehn Monaten von jenen Bürgern geschultert werden, die genug Anstand besitzen, überhaupt Steuern zu zahlen. Trotz des enormen Drucks der „Troika“, wie die Griechen die Vertreter von IWF, Europarat und EZB nennen, geht die Regierung bei der Sanierung des Staatsapparats nur in kleinen, zaghaften Schritten voran.

Die neue Steuern treffen die Arbeitnehmer sowie die kleinen und mittleren Unternehmen am härtesten. Arbeitern und Angestellten wurden bereits vor einem Jahr die Gehälter und die Renten gekürzt, zudem haben sie auch die Erhöhung von Einkommens- und Mehrwertsteuer hinnehmen müssen. Mit dem neuen Sparpaket kommt nun eine zusätzliche Sondersteuer von 1 bis 3 Prozent auf die Einkünfte und Gewinne hinzu. Jene, die Steuerhinterziehung als eine Art Sport betreiben, haben weiterhin nichts zu befürchten. Auch in den letzten fünfzehn Krisenmonaten erwies sich der Regierungsapparat als unfähig, ein effizientes Steuersystem aufzubauen und der Steuerhinterziehung Einhalt zu gebieten.

Die Gruppen der Empörten

Ich wurde in den letzten Wochen von ausländischen Journalisten immer wieder gefragt, was ich von den „Empörten“ auf dem Syntagmaplatz halte. Nicht nur diejenigen sind empört, die sich vor dem Parlament auf dem Syntagmaplatz versammeln und die Parlamentarier beschimpfen und anpöbeln. Die ganze Bevölkerung ist es, und ihre Wut teilt sich in drei Strömungen auf.

Zur ersten Strömung gehören die, deren Privilegien durch die Krise gefährdet sind. Sie haben jahrzehntelang vom Klientelsystem profitiert, nun aber spüren sie den Druck der Troika, Reformen durchzuführen, sind empört und versuchen zu retten, was noch zu retten ist.

Die zweite Strömung besteht aus den Klein- und Mittelunternehmern sowie aus Arbeitnehmern des Privatsektors. Sie sind eher verunsichert und deprimiert als empört. Es fehlt ihnen die Hoffnung, dass das Land noch zu retten wäre. Die Arbeitslosenquote beträgt offiziell 16 Prozent. Fast alle Arbeitslosen stammen aus dem Privatsektor. In einer letzten Umfrage waren 55 Prozent der Befragten für Entlassungen auch in den öffentlichen Betrieben.

Den dritten Teil der Empörten symbolisieren die auf dem Syntagmaplatz. Eine bunte Menge, einige beschimpfen Parlamentarier, andere halten Versammlungen ab, schreiben Resolutionen und träumen von der „direkten Demokratie“. Dort sind aber auch viele, die ihre Empörung einfach durch ihre Präsenz zeigen wollen. Alle demonstrieren aber friedlich und haben es geschafft, sich gegen die Randalierer, die den Platz zweimal angegriffen haben, durchzusetzen. Und dieses Thema führt uns zur Gewalt, die in den Großstädten mit jedem Tag zunimmt.

Es gibt nicht nur die Randalierer, die jede Demonstration ausnützen, um Krawall zu machen, wie während der parlamentarischen Debatte über das Sparpaket. In den Stadtvierteln um Athens Zentrum geht es brutal zu. Die Stadtteile verwandeln sich jede Nacht in ein Schlachtfeld. Frauen und alte Leute werden auf offener Straße attackiert. Rechtsextremisten gehen auf Migrantenjagd, und Migrantengangs liefern sich untereinander Straßenkämpfe.

Viele alte Leute, die in diesen Vierteln wohnen, sehen die Rechtsextremisten als ihre Beschützer. Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte Griechenlands besteht die Gefahr, dass eine rechtsextreme Partei bei Wahlen den Sprung ins Parlament schaffen könnte. Sehr beunruhigend ist auch, dass ein großer Teil der Bevölkerung nicht nur empört ist, sondern auch Gewalt als politisches Mittel billigt. In Umfragen bezeichnen 49 Prozent der Bevölkerung Hetze gegen Politiker allgemein und deren Beschimpfung als legitim.

Die Kultur des Landes

Auf der anderen Seite sitzen die Europäer mit ihren Aufrufen. Von Olli Rehn, José Manuel Barroso, Christine Lagarde bis zu Angela Merkel, sie alle beschwörten die zwei großen Parteien, Pasok und Nea Dimokratia, gemeinsam für die neuen Sparmaßnahmen zu stimmen. Sie sagen ganz einfach: Wenn es doch die Portugiesen gemacht haben, warum können es die Griechen nicht auch tun?

„Es ist nicht wahr, dass 10 Millionen Griechen korrupt sind, wie vor allem viele Deutsche behaupten“

Sie verkennen dabei völlig die politische Kultur des Landes. Das politische System Griechenlands ist seit dem Bürgerkrieg (1945 bis 1949) auf Konfrontation gebaut. „Konsens“ ist in dieser Geschichte ein unbekanntes Wort. Nach dem Bürgerkrieg gab es die Konfrontation zwischen Nationalen und Linken. Danach kam die Konfrontation zwischen dem liberalen Zentrum und dem Königshaus mit seiner Partei, der Nationalradikalen Union.

Auf Obristenputsch (1967) und Militärdiktatur (bis 1974) folgte die ewige Konfrontation von Pasok und Nea Dimokratia. In den letzten zwanzig Jahren hat keine Oppositionspartei die Wahlen gewonnen. Es war immer die Regierungspartei, die die Wahlen verloren hat. Das heißt, dass keine Oppositionspartei ein Programm vorlegen und Prioritäten setzen musste, um die Wahlen zu gewinnen. Es genügte, wenn sie die Regierung während ihrer Regierungszeit systematisch diskreditierte. So hat die Nea Dimokratia im Jahre 2004 die Wahlen gegen die Pasok gewonnen, und so hat es auch die Pasok gemacht, um die Wahl von 2009 zu gewinnen.

Diese Politik hat in Griechenland einen Namen. Sie wird „Politik der reifen Frucht“ genannt. Woher soll dann ein Konsens kommen? Das grenzte an ein Wunder. Aber die Wunder sind uns mit den Olympischen Spielen 2004 ausgegangen. Jetzt schiebt die EU alle Schuld auf die Griechen. Aber Griechenland ist kein gutes Beispiel, um zu erkennen, wo das System, das seit den 1990er Jahren weltweit aufgebaut wurde, versagt hat. Wir haben fast alles falsch gemacht und müssen jetzt den Preis dafür zahlen. Das gute Beispiel ist Irland. Die Iren haben alles richtig gemacht, liegen aber trotzdem am Boden. Es ist nicht lange her, seitdem die Europäer vom „irischen Modell“ und vom „keltischen Tiger“ schwärmten. Was ist davon geblieben?

Wir haben auf Pump gelebt und gehen daran zugrunde. Die irischen Banken haben auf Pump Gewinne gemacht und gehen daran zugrunde. In beiden Fällen ist der gemeinsame Nenner der Pump. Der Pump ist keine Ausnahme, er ist systemimmanent. Ob Griechenland noch zu retten ist, wissen weder die Europäer noch die Griechen. Eine Regierung, die von inneren Kämpfen erschüttert ist, und nur kleine, mutlose Schritte wagt, ist jedoch keine Hilfe.

Die EU gibt aber ebenfalls ein trostloses Bild ab. Die Regierungen der EU lassen sich seit Beginn der Krise von ihren Spielchen treiben, die Wählerschaft im Blick. Sie verlieren dabei viel wertvolle Zeit.

Sollten deswegen noch andere EU-Mitgliedsstaaten mit in den Abgrund gerissen werden, dann wird nicht nur Griechenland die ganze Schuld dafür tragen, sondern auch die EU mit ihrer kleinkarierten Politik.

Petros Markaris, geb. 1937, lebt in Athen. Im Zürcher Diogenes Verlag ist gerade sein neuer Kriminalroman, „Faule Kredite“, erschienen