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Lesen, Dösen, Vor-sich-hin-Starren: Loredana Nemes’ Fotobuch „Under Ground“ gilt den fahrenden Städtebewohnern in Berlin, Paris und anderswo

Loredana Nemes’ Fotobuch „Under Ground“ kennt viele Vorgänger. Luc Delahaye 1999 und sein Exkollege, der amerikanische Magnum-Fotograf Bruce Davidson in den 80er-Jahren, zuletzt Christophe Agou 2004: Sie alle haben die Menschen in der U-Bahn fotografiert. Am berühmtesten ist damit Walker Evans mit Bildern aus den Jahren 1938 bis 1941 geworden.

Trotzdem ist Loredana Nemes, deren Fotografien bei Bildschöne Bücher in der Kollwitzstraße auch ausgestellt werden, ein ganz beachtlicher und sehenswerter neuer Ansatz gelungen. Anders als ihre Vorgänger beschränkte sie sich nicht auf die U-Bahn einer einzigen Stadt wie Paris oder New York. Anders als etwa Luc Delahaye und Walker Evans – der seine Bilder übrigens erst 1966 unter dem Titel „Many Are Called“ veröffentlichte – nahm sie die Passagiere nicht heimlich auf. Loredana Nemes fand ihre ÖPNV-Nutzer in Paris, New York, Moskau, Berlin, London und in Bukarest, wo die U-Bahn nur vier Linien hat. Eine nostalgische Reminiszenz, denn die Fotografin, die seit 2000 in Berlin lebt, wurde 1972 in Sibiu in Rumänien geboren.

Die Vielzahl der Aufnahmeorte erklärt sich aus ihrem Interesse nicht an der U-Bahn als charakteristischem Ort der jeweiligen Stadt, sondern an der letztlich stereotypen, überall gleichen Situation, die die Städtebewohner in ihrer reinsten Daseinsform zeigt. Konsequent nutzte sie die beobachteten universellen, U-Bahn-typischen Verhaltensmuster – Lesen, Dösen, Vor-sich-hin-Starren – um Einzelbilder wie Serien, New-York-Bilder wie Aufnahmen aus London oder Moskau als einzigen, über alle Grenzen fortlaufenden Zyklus zu präsentieren.

Sichtlich sind ihre schwarzweißen Nahaufnahmen keine Schnappschüsse. Vielmehr handelt es sich um kalkulierte Momentaufnahmen. Denn Loredana Nemes, die offen mit ihrer zweiäugigen Rolleiflex-Mittelformatkamera hantierte, fuhr auch mal so lange mit den von ihr ausgesuchten Personen mit, bis diese sie vergaßen, während Nemes selbst ein untrügliches Gespür für den Moment entwickelt hatte, an dem es den Auslöser zu drücken galt.

BRIGITTE WERNEBURG

Loredana Nemes, Underground, 112 Seiten, Conference Verlag Hamburg 2007, Hardcover, 35 €ĽAusstellung bei: Bildschöne Bücher, Kollwitzstr. 53, Mi.–Fr. 16–19 Uhr, Sa. 10–18 Uhr, bis 21. Juli