„Ich will die Ursachen behandeln“

LERNTHERAPIE ADS, ADHS, LRS oder Dyskalkulie – viele Kinder laufen mit dieser Diagnose herum. Zu Unrecht sagt Svend Holger Schulze, Geschäftsführer der Lernwerk Buntstift GmbH. Die meisten von ihnen haben ganz andere Probleme

■ 55, studierte nach dem Hauptschulabschluss noch Wirtschaft in Kiel. Er arbeitet bei der Treuhand, wird anschließend Vorstand eines Bauunternehmens. 2002 steigt er aus und baut die Lernwerk Buntstift GmbH mit heute neun Standorten und fünf Ergotherapiepraxen vor allem in Norddeutschland auf.

INTERVIEW ANNE PASSOW

taz: Herr Schulze, Sie waren Bauunternehmer und haben eine Nachhilfe- und Therapieeinrichtung gegründet. Warum?

Svend Holger Schulze: Ich selbst habe als Kind schlechte Erfahrungen mit dem Schulsystem gemacht. Mit 15 Jahren musste ich die Realschule verlassen, weil ich nach Ansicht meiner Lehrer nicht gut genug war. Nach der Hauptschule habe ich den Realschulabschluss aber nachgeholt, Abitur gemacht, studiert und ein Unternehmen geleitet. Ich hab’s geschafft, mich hochzuarbeiten.

Kann das jedes Kind schaffen?

Viele Kinder fallen durch das Raster. Wenn sie in der Schule nicht mitkommen oder unruhig sind, bekommen sie schnell den Stempel ADS für Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom oder ADHS für Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung aufgedrückt. Oder Lehrer sagen: Das Kind hat LRS, also eine Lese-Rechtschreibschwäche, oder die Rechenschwäche Dyskalkulie. Das hat mich, auch als Vater zweier Kinder, immer gestört.

Offenbar ziemlich massiv …

Ja, vor zwölf Jahren habe ich deshalb meinen Job als Geschäftsführer an den Nagel gehängt und mir das Bildungssystem in den Benelux-Ländern, in der Schweiz oder Kanada angeguckt. Ich habe festgestellt, dass man dort anders mit Kindern umgeht, die Probleme haben. Man setzt sich mit den Ursachen auseinander und therapiert. In Deutschland betrachtet man nur die Symptome, drückt den Kindern einen Stempel auf oder verschreibt Medikamente. Ich wollte das ändern und habe das Lernwerk Buntstift gegründet. Wir geben normale Nachhilfe und bieten zum anderen Therapien an für Kinder, die mit einer vermeintlichen Lern- oder Konzentrationsstörung zu uns kommen.

Etwa mit der Diagnose ADHS?

Ja. 80 Prozent aller Kinder, die mit ADS oder auch mit LRS zu uns geschickt werden, haben eigentlich ein anderes Problem. Bei ADS liegen oft Defizite in der frühkindlichen Entwicklung oder ein geringes Selbstwertgefühl vor. Bei einer LRS haben die Kinder häufig Schwierigkeiten, Tonhöhen zu unterscheiden. Das führt dazu, dass sie nicht richtig betonen oder den Unterschied zwischen p und b nicht erkennen. Manche haben auch eine Blicksteuerungsauffälligkeit. Diese Kinder überspringen beim Lesen Zeilen. All diese Probleme kann man statt mit Medikamenten mit Therapien behandeln.

Was tun Sie, wenn Eltern mit ihren Kindern kommen?

Zuerst führen wir ein Gespräch mit den Eltern. Mit Hilfe eines Fragebogens suchen wir nach Problemen in der frühkindlichen Entwicklung, nach Traumata, Ängsten und Unsicherheiten. Hier kann ein vermeintliches ADS oder ADHS eine Ursache haben. Auch mediale Reizüberflutung kann eine Ursache sein. Da können dann Psychologen helfen. In einem zweiten Schritt untersuchen Therapeuten die Kinder. Sie überprüfen etwa, wie schnell ein Kind Tonhöhen differenzieren kann. Oft stellen sie Wahrnehmungs- oder Entwicklungsdefizite fest. Der Bericht der Therapeuten geht dann an den Lehrer oder den behandelnden Arzt des Kindes. Wenn der Arzt die Therapie verschreibt, können unsere Therapeuten mit der Arbeit beginnen.

Wie sieht diese Therapie aus?

Die Hörwahrnehmung kann man durch Training verbessern. Dabei lesen Schüler und Therapeut gleichzeitig einen Text. Die Stimmen laufen über einen Computer und das Kind hört sie wieder über Kopfhörer. Der Computer fügt Störgeräusche bei oder versetzt die Stimme des Therapeuten um eine Millisekunde. Dadurch kann man trainieren, dass beide Gehirnhälften synchron arbeiten. Die Blicksteuerung kann man mit speziellen Brillen trainieren. Nach sechs bis acht Monaten ist das Wahrnehmungsproblem therapiert und kommt nicht zurück.

Sind Medikamente immer der falsche Weg?

Es gibt einige wenige Fälle mit „echtem“ ADS oder ADHS. Dann kann es sinnvoll sein, für einige Monate Ritalin oder ein anderes Medikament einzusetzen. Allerdings nur solange, bis das Kind therapiefähig ist. Sonst ist das ADS oder ADHS wieder da, sobald man das Medikament absetzt. Wenn man dagegen die Ursachen behandelt, hilft man dem Kind langfristig.