„Theater aus der Zukunft“

JUBILÄUM Die Initiatorinnen des transnationalen Kunstprojekts „Hajusom“, Ella Huck und Dorothea Reinicke, über kollektives Arbeiten und die politische Dimension des Projekts

■ 49, ist ausgebildete Tischlerin und Schauspielerin, hat als Improvisations- und Animationskünstlerin gearbeitet und produziert seit 1992 Theater- und interdisziplinäre Performance-Projekte. Gemeinsam mit Dorothea Reinicke hat sie 1998 das transnationale Kunstprojekt Hajusom initiiert, dessen künstlerische Leiterin sie seitdem ist.

INTERVIEW ROBERT MATTHIES

taz: Frau Huck, Frau Reinicke, Sie erarbeiten Performance-Theaterstücke mit jungen Menschen mit und ohne Fluchterfahrungen. Was unterscheidet Ihr transnationales Kunstprojekt „Hajusom“ vom Stadttheater, das das Thema Flucht ja seit einiger Zeit auch für sich entdeckt hat?

Ella Huck: Hajusom gibt es seit 15 Jahren, und zwar jede Woche, immer. Unsere Produktionen entstehen in einem langen Prozess, wir nehmen uns die Zeit, wirklich ganz einzutauchen. Die Recherchearbeit dauert sehr lange, auch die Recherche auf der Bühne gemeinsam mit unseren PerformerInnen: Wie können wir etwas umsetzen, wie fühlt sich das an, welche Geschichten fallen uns dazu ein?

Dorothea Reinicke: Für unsere Produktion „Paradise Mastaz“ waren wir auf dem Land und haben zehn Tage miteinander gelebt. Das ist ein komplett anderer Zusammenhang, in dem Leben und Kunst zusammenkommen. Das ergibt einen anderen Kunstbegriff, den alle mitgestalten, die an diesem Prozess teilnehmen.

taz: Und dabei gibt es keine Regisseure?

Huck: Oliver Kontny, der selbst Dramaturg ist, hat es in unserem Buch „Paradise Mastaz. Der transnationale Kosmos Hajusom: Theater aus der Zukunft“ folgendermaßen beschrieben: Wir geben Regiebausteine an die Gruppe, die diese bearbeitet und uns wieder zurückgibt. Wir bringen diese Bausteine dann in eine neue Reihenfolge und geben sie wieder zurück. Wir arbeiten zwar als die zwei Hauptpersonen, die immer außen sitzen und sortieren, aber immer im engen Prozess mit dem Ensemble. Wir diskutieren im großen Kreis. Jeder kann so lange sprechen, wie er braucht, um etwas zu sagen. Wir bestimmen die Idee, die Texte, die Performance und auch dramaturgische Aspekte kollektiv und auf Augenhöhe.

Reinicke: Es kommt nicht nur eine andere Kunst dabei heraus, es gibt dafür auch ein anderes Publikum. Das geht durch alle Altersschichten und alle sozialen Klassen, vom jungen Geflüchteten bis zum Bildungsbürger. All diese Menschen spüren den besonderen Spirit von Hajusom, der überspringt, weil etwas passiert, das kollektiv getragen wird, weil es auch kollektiv entstanden ist. Man ist anders beeindruckt als vom Werk eines Regisseurs und von sehr guten Schauspielern, die in perfekt geschultem Deutsch großartige Texte von der Bühne heruntersprechen. Es ist ein anderer Prozess und ein anderer Fokus.

taz: Knüpfen Sie dabei an bestimmte Konzepte des Theaters an?

Reinicke: Wir sehen uns in der Tradition des Performancetheaters, eines Theaters, das unter anderem mit biografischem Material umgeht und interdisziplinär arbeitet. Aber wir stellen die Geflüchteten dabei nicht als solche aus. Es geht darum, wie mit dem biografischen Material umgegangen wird, damit es zu einer selbstbewussten Präsentation führt. Wir sagen immer: Ihr steht da, Ihr habt eine große persönliche Ausstrahlung und Kraft, Ihr seid in diesem Prozess Künstlerinnen und Künstler geworden.

Huck: Es sind auch nicht alle geflüchtet, viele im Ensemble sind hier geboren. Es mischt sich sehr divers zusammen.

taz: Das Thema Asyl- und Migrationspolitik ist aber in allen Stücken präsent.

Reinicke: Es ist eben auch ein politisches Projekt. Es geht auch darum, etwas zu bewirken. Dadurch, dass wir in Hamburg eine große Öffentlichkeit vorfinden, haben wir auch etwas in der Hand, das man im Zusammenhang mit Abschiebungen ausspielen kann.

■ 63, arbeitete nach einer kurzen Karriere als Punksängerin freiberuflich als Schauspielerin und Performerin. Ausbildung als Schauspielerin und Sängerin. Seit 1993 realisiert sie interdisziplinär angelegte Performanceprojekte, seit 1998 ist sie künstlerische Leiterin bei Hajusom.

Huck: Wir haben aber nicht im Kopf „Flüchtlingstheater“ zu machen. Wir suchen zusammen Themen, die wir bearbeiten wollen. Wir arbeiten auch mit Empathie, weil wir den Künstler als ganzheitlichen Menschen betrachten. Da kann man die individuelle Dimension nicht ausblenden, in der sich die Geflüchteten zum Teil befinden.

taz: Wie konkret ist die Drohung durch Abschiebungen für Hajusom?

Reinicke: Viele haben nur eine befristete Gestattung. Es gibt immer diese Zitterpartie: Kann ich mir eine neue Lebensperspektive aufbauen? Es gibt nach wie vor Leute, die nicht sicher sein können, wie es weitergeht. Aber wir haben Netzwerke mit Anwälten, die da konkret etwas machen können.

Huck: Wenn jemand von Abschiebung bedroht ist, dann engagieren wir uns, weil wir Menschen sind und es ungerecht finden. Und als politische KünstlerInnen gibt es auch eine Möglichkeit, in die Diskussion um Migration einzugreifen und ein Konzept vorzustellen, wie es anders funktionieren könnte: dass alle im Kreis sitzen und miteinander sprechen und versuchen, auch Konflikte so zu lösen. Dadurch entwickeln wir neue Kommunikationsformen. Wir glauben, dass es so geht: mit viel Zeit, viel Mitgefühl und einem gemeinsamen Ziel.

Reinicke: Diese Kommunikationsformen, die dabei entstehen, kann man auch in anderen Kontexten anwenden, wo es einfach darum geht, dass man andere Meinungen und andere Menschen anerkennt und mit ihnen gemeinsam etwas entwickelt, das aus dem Schlamassel herausführt.

■ Festival zum 15-jährigen Jubiläum mit „Best-of-Hajusom-Show“ und Wiederaufnahmen: Fr, 28. 11. bis So, 30. 11., Kampnagel