Porträt eines Heiligen

Der muslimische Gelehrte Tariq Ramadan erklärt schlicht und fromm, was „uns“ Mohammed heute zu sagen hat – in Fragen des Glaubens, aber auch des gesellschaftlichen und politischen Lebens

VON JÖRG SPÄTER

Das amerikanische Nachrichtenmagazin Time hat ihn zu einem der 100 wichtigsten Intellektuellen des Jahrhunderts gekürt. In die USA einreisen darf er aber gegenwärtig nicht – nichts dürfte trefflicher demonstrieren, wie umstritten Tariq Ramadan ist.

Er ist ein Enkel von Hassan al-Banna, dem Gründer der Muslimbrüderschaft, bestreitet jedoch, selbst Mitglied dieser fundamentalistischen Gemeinschaft zu sein, während KritikerInnen wie Caroline Fourest ganze Bücher darüber schreiben, um ihm dies nachzuweisen („Frère Tariq. Discours, stratégie et méthode de Tariq Ramadan“). Sie werfen Ramadan vor, mit einer versteckten Agenda zu operieren.

Einerseits trete der Schweizer Bürger mit britischem Wohnsitz für eine aktive Partizipation der Muslime in den westlichen Gesellschaften ein. Doch andererseits mache der sich aufgeklärt gebende muslimische Gelehrte den antiwestlichen und antisemitischen Islamismus hoffähig. Ob diese Vorwürfe stichhaltig sind oder nicht – in jedem Fall ist Ramadan eine Orientierungsperson für viele muslimische Akademiker in Europa. Umso gespannter durfte man auf seine gerade bei Oxford University Press erschienene Mohammed-Biografie sein.

Die Titelei mit ihren Schlüsselwörtern „Footsteps“ und „Lessons“ deutet bereits an, um welche Art Biografie es sich handelt: Ramadan geht der Frage nach, was „uns“ Mohammed heute zu sagen hat – in Fragen des Glaubens und des Lebens, auch des gesellschaftlichen und politischen. An der historischen Figur interessieren ihn also nur die vermeintlich zeitlosen Lehren für das gute und richtige Leben eines Muslims und eines islamischen Gemeinwesens. Ramadan erzählt zum Beispiel, wie der junge Mohammed in der Wüste bei den Beduinen aufwächst und dort eine spezielle Beziehung zur Natur entwickelt, um dann festzustellen, dass ein natürliches und naturnahes Leben Ausdruck eines tiefen Glaubens sei.

Die „Lessons“ sind also teilweise sehr schlicht und fromm, teilweise aber auch sehr gelehrt und erhellend. So etwa, wenn er die Geschichten miteinander vergleicht, die das Alte Testament und der Koran über die zunächst geforderte, dann aber nicht vollzogene Opferung des Sohnes Abrahams erzählen, und daraus Rückschlüsse auf die philosophiegeschichtliche Entwicklung in Europa zieht. In der islamischen Tradition sei der Sohn an der Entscheidung, zu opfern, beteiligt, in der jüdisch-christlichen treffe sie Abraham allein: Diese tragische Einsamkeit finde Niederschlag von der griechischen Tragödie bis zu Kierkegaards christlichem Existenzialismus.

Ramadan argumentiert bei seiner Suche nach dem guten Leben im Sinne des Propheten immer im Rahmen der islamischen Lehren, also innerhalb dessen, was gedacht und gesagt werden darf – aber das mit rationalen Mitteln. Die Vernunft ist ein Werkzeug des Glaubens. Koranverse und Hadithe (Sätze, die dem Propheten zugeordnet wurden) bilden das Fundament, der Lektionen aus Mohammeds Leben. Das ist etwa so, als würde man in einem Buch über das Christentum die Bergpredigt als zentrale Orientierung anführen und nicht etwa die blutigen Kreuzzüge.

Obwohl es Ramadan in erster Linie um den Glauben und um Spiritualität geht, sind die politischen Implikationen der mit Verstand erkundeten religiösen Richtlinien immer mit den Händen zu greifen. Das ist vor allem dort so, wo er in der Biografie Mohammeds die Reizthemen der gegenwärtigen Probleme mit dem Islam in der Welt und in den westlichen Gesellschaften berührt: Krieg, Frauen, Juden.

Der Dschihad wird als ein Konzept erklärt, das zunächst im Sinne von „sich bemühen“ und „mit Worten und Gedanken“ angesichts von Verfolgung und Bedrängung „widerstehen“ gemeint war – und erst später die Dimension „kämpfen“, auch mit militärischen Mitteln, erhielt. In beiden Fällen sei der Dschihad jedoch ein defensives Gebot gewesen.

Die Frauen: Anhand der Frau Mohammeds, Khadidscha, zeigt Ramadan implizit, wie eine moderne muslimische Frau zu sein hat. Sie unterstützte mit Liebe ihren Mann, sie war die erste Muslima, bestärkte und umhegte ihn. Sie war unabhängig, würdevoll, respektiert, stark, einfühlsam, gläubig und fromm. Ohne dass viel von Kleidungsstücken die Rede wäre – hier wird der Prototyp einer gleichwertigen weiblichen Person unter einem Kopftuch gezeichnet, die mit Bügeleisen und Handy gleichermaßen umgehen kann und weiß, was sie will; die abends, wenn ihr Mann nach harter Arbeit – vielleicht hat er ein Buch über den Islam geschrieben – nach Hause kommt und aus freien Stücken fragt: „Schatz, was kann ich für dich tun?“

Die Juden: Ramadan will kein Unruhestifter sein, sondern er betet die Litanei des Dialogs, des Respekts und der gegenseitigen Anerkennung herunter. So hält Ramadan fest, dass die Essenz der friedlichen Koexistenz nicht aufgehoben worden sei, auch wenn er in seiner Geschichte des Propheten die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Mohammeds Truppen und jüdischen Stämmen beschreibt, die sich im Koran in antijüdischen Stellen niedergeschlagen haben. Selbstredend jedoch habe die Schuld an den Konflikten bei einem Juden gelegen. Aus dem wirklichen Leben weiß man zudem, dass Ramadan in streitlustiger Stimmung französischen Intellektuellen wie Bernard Lévy eine Tendenz zum „jüdischen Kommunitarismus“ nachgesagt hat.

Ramadan will insgesamt zeigen, dass man Frieden mit Muslimen schließen kann, wenn der Geist, in dem der Islam steht, nicht verletzt wird. Dabei ist die Voraussetzung von Bedeutung, dass ja nach islamischem Verständnis Judentum und Christentum in demselben universalen Geist stehen – nicht aber wohl Atheismus und Agnostizismus. Ob solche Bekenntnisse Ausdruck von Überzeugung oder Propaganda, Vernunft oder Mission oder alles zusammen sind, weiß allein der Prophet.

Was dessen Biografie belangt, erzählt Ramadan nicht die Geschichte eines wirkungsmächtigen Religionsstifters und Politikers, sondern die eines Heiligen. Man muss dem Propheten ja nicht immer gleich den Kopf abschlagen, aber ein wenig mehr Distanz und weniger Ehrfurcht, mehr Kritik und weniger Gebet, mehr Wissen und weniger Offenbarung wären für eine Biografie von großem Nutzen.

Im Grunde erzählt Tariq Ramadan die üblichen kanonisierten, autorisierten und tradierten Geschichten und Anekdoten über die ersten Tage des Islam – die allerdings hierzulande wenig bekannt sind. Dies ist ein theologisches Buch, eine Exegese des Lebens und Lebenswerkes des Propheten, eine Predigt, aber kein historisches Buch, jedenfalls nicht im wissenschaftlichen Sinne einer historisch-kritischen Forschung.

Der Star dieses Buches ist also nicht der Prophet, sondern der Autor mit seiner politischen Aura. Der Reiz an dieser Schrift liegt daran, dass man studieren kann, was einer der wichtigsten und umstrittensten muslimischen Gelehrten der Gegenwart über den historischen wie zeitgenössischen Islam denkt, wie er konkret die Vergangenheit adaptiert. Das Buch selbst ist von einigen Passagen abgesehen intellektuell eher dürftig und von einem wissenschaftlichen Standpunkt enttäuschend.

Tariq Ramadan: „In the Footsteps of the Prophet. Lessons from the Life of Muhammad“. Oxford University Press, New York 2007, 242 Seiten, 19,50 Euro