Sinnbild der Spekulation

KREUZBERG Sozialkritik per Audiowalk: Jörg Albrechts Stück „Nasty Peace“ verhandelt die Lage um das Neue Kreuzberger Zentrum

VON RENÉ HAMANN

Am Ende wusste ich, dass es gut war. Es gab Suppe an einer langen Tafel, die mit Namensschildern markiert war, sodass jede und jeder wusste, wo sie oder er ihren und seinen Platz hatte. Man hätte sich korrumpiert fühlen können bei der guten Kartoffelsuppe zum Schluss, aber auch das gehörte zu diesem Stück.

„Nasty Peace“ heißt es und ist zu drei Vierteln ein Audiowalk, also Spaziergang mit Begleittext, der über Kopfhörer zugespielt wird, und zu einem Viertel eher undramatisches Aufführen. Startpunkt ist eine „autonome“ Bar in der Kohlfurter Straße, wo eine Auktion vorgespielt wird, die Auktion des Kottbusser Tors, mitsamt umliegenden Prachtbauten.

Der Audiowalk führt genau durch dieses kaputte Herz der Stadt: vorbei an der Mieterprotest-Bude, in den Untergrund und wieder hinauf, ins Hostel, aufs Parkhaus, in die gesamte Schönheit des Neuen Kreuzberger Zentrums (NKZ), dem Sinnbild des 70er-Jahre-Betonirrsinns, dem Sinnbild auch der deutschen Wiedervereinigung, der seit gut fünfzehn Jahren sich hier ausbreitenden Subkultur und nicht zuletzt des Spekulationswahns, der hierher gefunden und den Stadtteil Kreuzberg 36 mächtig verändert hat und noch weiter verändern wird.

Das alles erfährt man via zugespieltem Text, der auf Deutsch, Englisch und Türkisch verfügbar ist. Ihn ausgedacht hat sich im Wesentlichen der Autor Jörg Albrecht (Regie führte Steffen Klewar, der auch einer der Darsteller war – Murat Dikenci und Fabian Stumm vervollständigen das Ensemble): Ein Text, der kommentiert, der Ausflüge in die konkrete wie übergeordnete (jüngere) Geschichte macht (auch mittels gut recherchierter O-Töne) und sich bemüht, Kritik an den Verhältnissen zu formulieren.

Jörg Albrecht ist ein junger Autor, der bereits das Ruhrgebiet in einer Sci-Fi-artigen Fantasie namens „Anarchie in Ruhrstadt“ (erschienen bei Wallstein) ausbeutete und umdeutete. Im Mai des Jahres wurde er in Abu Dhabi wegen des Verdachts auf Spionage vier Tage festgehalten. Er war zur dortigen Buchmesse geladen und hatte wohl zu offensichtlich irgendwelche Notizen gemacht.

Der blinde Fleck

Überhaupt kommt der Autor ziemlich herum, meist auf dem Ticket des Literaturbetriebs; auch dieses Stück, das er mit seiner Theater- und Performancegruppe „Copy & Waste“ konzipiert hat (unter der Schirmherrschaft des English Theatre Berlin) ist von der öffentlichen Hand gefördert. Gut für die Schauspieler, gut für den Autor und eigentlich nicht weiter der Rede wert – wäre das nicht der blinde Fleck dieses Stücks: Es klammert bei aller Sozialkritik und Kritik am waltenden Spät-, Turbo- oder Wie-auch-immer-Kapitalismus die eigenen Produktionsbedingungen aus.

Die Tickets kosten 12, ermäßigt 8 Euro, Suppe inbegriffen. Beschweren kann man sich darüber kaum, besonders wenn man den Berliner Kulturstaatssekretär Renner im Ohr hat, der sowieso höhere Eintrittspreise für Oper und Theater fordert. Trotzdem stellt sich die Frage, wer sich dieses Ticket denn leisten möchte. Die Armen, durch deren Welt man auf dem Audiowalk läuft, wohl nicht. Die türkischstämmige Community, die diesen Sozialfleck beherrscht, wohl auch nicht.

Am Premierenabend waren es also eher gut informierte Hipster, interessierte junge Leute wie du und vielleicht noch ich, die sich mit Kopfhörern durch das Zentrum Kreuzbergs wie in einer Geisterbahn bewegten. Es gab tatsächlich merkwürdige Effekte, Effekte des künstlichen Eintauchens in reale soziale Situationen, die Albrecht und seine Gruppe kreiert haben: eine mit der Luft und dann mit der Gruppe schimpfende Frau, Passanten, die nach den fehlenden Laternen unserer seltsamen Martins-Prozession fragten, ein Straßenmusikant, der sich uns in den Weg stellte, die auf die Bahn wartenden Fahrgäste, der türkische Mercedesbesitzer in der zwielichtigen Zone, die Frau, die ihre Einkaufstüten fallen ließ, die irritierten Hänger in der Hostelbar.

Dazu gab es den Begleittext aufs Ohr: ein bisschen Sloganism, ein wenig historischer Kontext (sehr gut!), ein wenig politischer Diskurs. Technisch einwandfrei, sozial höchst interessant, leider frei von jeder Dialektik. Aber egal, es war eine Erfahrung, auch eine persönliche. Das Stück führte durch Orte, die sich mit Geschichte(n) verbanden: damals im Olfe, damals auf dem Dach des Parkhauses, damals im West Germany. Und bei der Suppe wusste ich: Es war alles gut.

■ Kohlfurter Straße 33. Weitere Termine: www.etberlin.de/production/nasty-peace/