Erfinden und Wiedererfinden

PERFORMANCE Die Geburt des Künstlers aus dem Geist von Kung Fu. Ein Porträt des Kongolesen Dieudonné Niangouna, der am Theater des Frankfurter Mousonturms arbeitet

Mit zornigem Furor befragen Niangounas Stücke die herrschende Weltordnung mit Höhen und Tiefen

VON ESTHER BOLDT

Dieudonné Niangouna, agil, wortgewandt und sprachgewaltig, sind der raumgreifende Gestus und die bildreiche Sprache des Geschichtenerzählers zu eigen. Sein Blick ist eindringlich, sein Sprechtempo rasant. Er trägt ein rotes Ché-Guevara-T-Shirt und hat den schwarzen Hut während des Gesprächs in einer Garderobe des Frankfurter Theaters Mousonturm in der Hand. Viel Zeit hat er sowieso nicht.

Er ist ein energischer Gesprächspartner, der gern das Wort führt. Zwei Tage zuvor hat sich der kongolesische Autor, Schauspieler und Regisseur dem Publikum als assoziierter Künstler am Frankfurter Mousonturm vorgestellt, hier wird er in den kommenden drei Jahren eigene Arbeiten zeigen und afrikanisch-deutsche Austauschprojekte begleiten.

„Le Kung Fu“ war der perfekte Abend zur Selbstvorstellung, erzählt Niangouna darin doch, wie er zum Künstler wurde: Als Vierjähriger lernte er Kung-Fu-Filme kennen und lieben. Bald spielte er sie nach, erfand mit seinen Brüdern Geschichten hinzu und plünderte die Bibliothek seines Vaters. Er wollte, erzählt er, der erste kongolesische Kung-Fu-Filmstar werden. Sein Vater versprach, ihn in einem chinesischen Kloster zum Shaolin-Mönch ausbilden lassen, doch dieses Versprechen wurde nie eingelöst. Dies alles erzählt Niangouna nonchalant, zwischendurch werden Filme von Frankfurtern eingeblendet: 20 von ihnen haben je eine Szene ihres Lieblingsfilms aus dem Gedächtnis nachgespielt, und wurden so in dasselbe Spiel des Erfindens und Wiederfindens verwickelt, das Niangouna betrieb. Auch wenn er darauf beharrt, „Le Kung Fu“ sei ein dokumentarischer Abend, so ist es doch ein Abend über die Kraft des Erzählens im Übergang zwischen Realität und Fiktion, Gefundenem und Erfundenem.

Die Popkultur des ehemaligen Kolonialherren Frankreich wird gefräßig weiterverarbeitet: „Ich habe mich selbst geboren durch ausländische Einflüsse. Erst die Ernährung durch ein anderes ermöglicht, das man sich selbst erschafft.“ Seine Künstlerwerdung schreibt er verschiedenen Geburtsakten zu – aus dem Geiste von Kung-Fu-Filmen, des Fremden, des Krieges und der Unterdrückung. Die Wirklichkeit scheint dazu da, um von Niangouna stets neu beschrieben und begriffen zu werden.

1976 wurde er in Brazzaville geboren und wuchs in der sozialistischen Volksrepublik Kongo auf, in einer intellektuellen, europäisch orientierten Familie: Sein Vater lehrte an der Sorbonne und pendelte zwischen Paris und Brazzaville. Aus Frankreich brachte er die Autorenfilme der Nouvelle Vague mit und steckte seinen Sohn an mit seiner Filmleidenschaft.

Niangouna studierte Schauspiel an der École nationale des Beaux-Arts und spielte in verschiedenen Theatergruppen der Stadt. Als 1997 der Bürgerkrieg ausbrach, als Schulen geschlossen und Theater zerstört wurden, als von 500 Theatergruppen nur zwei übrig blieben, gründete Dieudonné mit seinem Bruder Criss die Kompanie Les Bruits de la Rue. Als der Bürgerkrieg anhielt, zog sein Bruder an die Elfenbeinküste.

Warum er selbst nicht geflohen sei? Ein empörter Blick: „Wenn die Bomben fallen, muss ich reden. Dann kann ich nicht weglaufen.“ Seinen Mut stellt er als Selbstverständlichkeit dar, zugleich erinnert das Bestehenwollen in einer Gewalterfahrung an die Peitsche.

Träumen in der Klasse

In „Le Kung Fu“ erzählt Niangouna, dass er wiederholt von seiner Lehrerin ausgepeitscht wurde, weil er in der Klasse vor sich hinträumte. Diese Peitschenhiebe, erzählt er, hätten ihn gezwungen, sich seinen Peinigern nicht zu beugen, sondern seinen Weg unbeirrt weiterzugehen. Im Krieg trieben ihn die Bomben an, weiterzumachen und eine Sprache zu entwickeln, die schneller, lauter, härter war als der Waffenlärm.

„Der Krieg hat meine Ästhetik, mein Theater verändert.“ Er wurde Autor, Regisseur und Schauspieler in Personalunion. „Ich habe immer weitergespielt, das Theater war für mich ein künstlerischer Akt des Überlebens und des Widerstands, das Spiel ist Leben, der Text eine Waffe.“

In Frankreich gilt Niangouna, der heute in Brazzaville und Paris lebt, als ein wichtiger Gegenwartsautor. Seine eigenwilligen, schwer übersetzbaren Texte verbinden französische Hochsprache mit Slang, traditionellen Mythen seines Volkes, der Lari, und eigenen Worterfindungen. Vincent Baudriller, der bis 2013 das Festival d’Avignon leitete, förderte Niangouna schon früh, im vergangenen Jahr war er dort als künstlerischer Koleiter für die Auswahl des Programms mitverantwortlich und zeigte sein Stück „Shéda“.

Fünf intensive, bildstarke Stunden in einem Steinbruch bei Avignon, mit zwölf Schauspielern und zwei Musikern, die die Gewalt und Wut auf den Straßen Kongos reflektierten.

Mit ihrem zornigen Furor befragen seine Stücke jedoch auch die herrschende Weltordnung mit ihren schwindelerregenden Höhen und Abgründen. „Seine Stücke handeln von der biografischen Erfahrung in einer Gesellschaft, die in sich nicht funktioniert und versucht, sich dem Trauma des Bürgerkriegs zu stellen“, erzählt Mousonturm-Intendant Matthias Pees. „Und um sich dieser Realität zu stellen, muss sie erst mal dargestellt werden.“ Seit einigen Jahren ist die Kompanie Les Bruits de la Rue auch im deutschsprachigen Raum zu sehen, etwa bei den Wiener Festwochen 2012 und bei den Theaterformen Hannover 2013.

Den Kongo aber verliert Niangouna, der laut Pees „schreibt wie Jelinek und inszeniert wie Schlingensief“, nicht aus dem Blick: Nach dem Krieg hat er dort 2003 das Festival „mantsina sur scène“ gegründete, um auch andere zu ermutigen, wieder Kunst zu machen und eine Szene in Brazzaville zu entwickeln. Seither gibt es jedes Jahr drei Wochen Filme, Konzerte, Performances, Literatur und Workshops. Fragt man Niangouna, woher er das Geld für sein Festival nehme, so lacht er nur breit und sagt: „Ich weiß es nicht.“ Denn auch der Erzähler seines eigenen Lebens erzählt nur das, was er will.