Genderideologie und Sexualisierung unserer Kinder sind super. Jedenfalls das, was die Sprachkünstler mit diesen Worten inhaltlich eigentlich kritisieren
: Glückliches Deutschland

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Ich bin für Demonstrationen. Ich habe selber an einigen teilgenommen, ich denke, es waren zu wenige. Wir sollten uns mehr engagieren, mehr auf die Straße gehen, mal am Samstagvormittag das Einkaufen sein lassen und demonstrieren gehen, oder gegendemonstrieren. Denn wenn wir das tun, dann wird das, was wir klein und stumm in unserem Herzen sitzen haben, größer und wütender. Denn unser ‚ich‘ will nicht glauben, dass irgendetwas, das es tut, Rausgehen, Geld ausgeben, für die Bahn zum Beispiel, Verzichten, auf das Shoppen am Samstag zum Beispiel, sinnlos wäre oder unbedeutend.

Wir nehmen uns selber wichtig, und wenn wir demonstrieren gehen, dann wird unser Anliegen in uns noch wichtiger. Demonstrieren ist eine hochemotionale Angelegenheit. Ist man nur sehr wenige, schämt man sich ein bisschen.

Ist man viele, schämt man sich auch ein bisschen, weil, einige, mit denen man zusammengehört, auf einer Demonstration, sind zum Schämen, leider. Das ist immer so. Das ist das Hauptproblem an Demonstrationen und warum ich mich so überwinden muss. Ich stimme im Grunde nur mit einer einzigen Person auf einer Demonstration vollkommen überein – mit mir.

Die neue Hauptstadt des Demonstrierens ist das hübsche Hannover. Hannover sollte die Demonstrationswut seiner Einwohner und Gäste eigentlich ins Stadtmarketing integrieren. „Hannover – Erleben sie die ganze Vielfalt der Empörung!“. Am Samstag gab es in Hannover immerhin sechs angemeldete Demonstrationen. Eine sehr emotionale Demonstration war die, „Für die Opfer linker Gewalt“. Für die Opfer linker Gewalt einzutreten, ist bestimmten Leuten sehr wichtig, weil sie selber fürchten, auf bestimmten Demonstrationen Opfer linker Gewalt zu werden. Ich mutmaße, nur so vom Ansehen her, dass einige der immerhin fünfundsiebzig Teilnehmer der Demonstration „Für die Opfer linker Gewalt“ auch gerne selber mal ein bisschen gewalttätig werden würden. Aber ich weiß es nicht. Gegen die Demonstration ‚für‘ gab es auch eine Demonstration ‚gegen‘. Die hieß, „Kein Platz für Nazis“. Die hatte immerhin einhundertfünfzig Teilnehmer, was ja glücklicherweise genau die doppelte Menge an Menschen ist. Glückliches Deutschland, sage ich da nur. Das sage ich gern, besonders in Kommentarspalten.

Glückliches Deutschland. Mit Ausrufezeichen. Das kommt gut an. Die intelligenteste Demonstration in Hannover war eindeutig die „Demo für alle“. Was für ein kluger Mensch konnte sich so einen Namen für eine Demonstration ausdenken? Für alle. Alle sind ja alle. Also auch ich, zum Beispiel. Ich hätte auch zur „Demo für alle“ gehen können. Ich wurde von dieser Demo sprachlich umarmt. Inhaltlich wurde ich allerdings eher bepöbelt, denn ich finde Genderideologie und Sexualisierung unserer Kinder ganz super. Jedenfalls das, was die Sprachkünstler mit diesen Worten inhaltlich eigentlich kritisieren, die umfassende sexuelle Aufklärung an Schulen. Aber das hatten wir ja schon mal. Gegen diese „Demo für alle“ gab es eine Demonstration, die nicht für alle aber für Vielfalt war, „Vielfalt statt Einfalt“, was möglicherweise mehr ‚alle‘ betrifft, als die ‚alle‘, die vorher gemeint waren.

Ferner gab es dann noch eine Demonstration der Jesiden: „Mehr Unterstützung für Yeziden in Shengal“. Da kamen zwölf. Und wenn man sich über die von der IS als Ungläubige verfolgten Jesiden im Nordirak informiert, dann wird einem klar, was wirklich schlimm ist. Aber das ist nicht hier. Der Nordirak ist nicht hier. Hier gehen dreißig Menschen zu einer Demonstration: „Pro Babytragen“. Echt jetzt? Tragt doch euer Baby. Ich hab meins gern auch mal wo reingelegt. Aber schön ist es trotzdem. Alle dürfen demonstrieren. Alle dürfen sich echauffieren. Niemand sperrt sie ein und foltert sie dafür. Ich sag nur, glückliches Deutschland!Katrin Seddig ist Schriftstellerin und lebt in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012 bei Rowohlt. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen.