Andächtig die Augen schließen

PORTRÄT Narine Yeghiyan ist Sopranistin an der Staatsoper Berlin. Sie wollte Dolmetscherin werden. Doch in Jerewan liegt die Universität neben der Oper. Das führte zu einer ganz anderen Karriere

Es ist schwer, eine Stimme zu beschreiben. Wörter wie klar, hell, brillant können nicht wiedergeben, wie sie unsere Seele berührt. Eine Stimme kann tiefe Melancholie in uns wecken; sie erinnert uns an einen Moment, in dem wir glücklich waren.

Wenn Narine Yeghiyan singt, sieht man die Wirkung ihrer Stimme auf den Gesichtern der Zuschauer. Sie scheinen in einer anderen Welt, eingetaucht in den Klang Yeghiyans. Seit einem Jahr gehört die Sopranistin, deren Stimme diese außergewöhnliche Wirkung hat, zum Ensemble von Stardirigent Daniel Barenboim.

Die junge Frau stammt aus Jerewan, der Hauptstadt Armeniens. Sie wurde erst spät entdeckt, mit 17. Eigentlich wollte Yeghiyan Dolmetscherin werden, hatte sich gerade an der Universität in Jerewan für Englisch eingeschrieben. Doch am Tag der Einschreibung veränderte sich ihr Leben.

„Komm, lass uns das Opernhaus besichtigen“, hatte eine Schulfreundin damals zu ihr gesagt. Die Universität befindet sich gleich neben der Oper von Jerewan, dem schönsten Platz der Stadt. Die beiden jungen Frauen ließen sich durch das Haus führen, und einfach so zum Spaß begann Narine Yeghiyan auf der Bühne zu singen. Zufällig war der Bühnenmaler da. Er erkannte sofort, wie einzigartig diese Stimme war. „Du musst Sängerin werden“, sagte er bestimmt und schickte Yeghiyan zur Studienleiterin der Oper. Noch am gleichen Tag durfte sie vorsingen. Obwohl sie noch nie zuvor auf einer Bühne gestanden hatte, wurde die junge Frau sofort am Staatlichen Konservatorium aufgenommen.

„Ich war einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort“, sagt Narine Yeghiyan lachend in ihrer Wohnung in Berlin Tiergarten. Wenn die Armenierin hier Gäste empfängt, schenkt sie Cognac aus – das Nationalgetränk, das in Jerewan in der Brennerei Ararat gebrannt wird. Der Berg Ararat, auf dem der Erzählung der Bibel zufolge die Arche Noah gestrandet sein soll, erhebt sich majestätisch über Jerewan. Für die Armenier ist dieser Ort die Wiege ihrer Nation, deshalb verdient nur ein edler Tropfen diesen Namen.

Kein Geld für große Oper

Narine Yeghiyan liebt ihre Heimat. Doch um von ihrem Beruf leben zu können, musste sie das Land verlassen. In Armenien gibt es kaum Geld für Kunst. „Man scherzt, dass die Oper ‚Carmen‘ nicht gespielt wird, weil kein Geld da ist, um die Räder des Bauernwagens aus dem Bühnenbild zu reparieren“, erzählt Yeghiyan.

Als Sängerin machte sie schnell Fortschritte. Insgeheim träumte sie vom Sprung auf die internationalen Bühnen. Im Fernsehen verfolgte sie begeistert die Konzerte der Berliner Staatsoper und verliebte sich auf der Stelle in Daniel Barenboims Art und Weise, das Ensemble zu dirigieren. „Neue Stimmen“, ein deutscher Gesangswettbewerb für den internationalen Opernnachwuchs, öffnete ihr in Deutschland Türen. Yeghiyan gewann einen Sonderpreis der Liz Mohn Kultur- und Musikstiftung und bekam ein Stipendium für das Opernstudium der Staatsoper Unter den Linden.

Die Entscheidung, ins Ausland zu gehen, fiel ihr nicht leicht, zumal ihr Mann und ihre Tochter zunächst in Armenien zurückblieben. Die ersten Monate in Deutschland waren schwer für die junge Frau, die ihr Alter nicht verraten will. Bald holte sie ihre Familie nach Berlin.

Mit großen Auftritten hat die armenische Sopranistin mittlerweile Routine. So stand sie mit Opernsuperstar Rolando Villazón auf der Bühne, hat Angelo Custode in „Rappresentatione di Anima et di Corpo“, die Barbarina in „Le nozze di Figaro“ gesungen. Die Woglinde, eine der Rheintöchter in Elfriede Jelineks umjubelter Wagner-Bearbeitung „Rein Gold“, an der Staatsoper von Nicolas Stemann inszeniert, interpretiert Yeghiyan sehr unkonventionell. Im März 2015 werden die Zuschauer Yeghyan in der Premiere von „Parsifal“ als Blumenmädchen und als Barbara in „Emma und Eginhard“ in der Staatsoper hören können.

Um die Stadt Berlin wirklich zu entdecken, bleibt der Sängerin nur wenig Zeit. Aber sie fühle sich hier heimisch, sagt Narine Yeghiyan im Brustton der Überzeugung. Ihr Deutsch ist gut, sie spricht es mit einem leicht armenischen Akzent. Als Nächstes will sie Italienisch und Französisch lernen. Wenn sie auf der Bühne steht, gehen ihr diese Sprachen locker über die Lippen. Doch Narine Yeghiyan will besser verstehen, wovon sie singt. Es geht ihr weniger um die Worte. Emotionen sagen so viel mehr aus.

TIGRAN PETROSYAN