Zivilisiertes Nebeneinander

VIDEOBRÜCKE Über eine Videobrücke zwischen Berlin, Riga und Moskau sprechen HistorikerInnen aus drei Ländern über Nationen, Staaten und Identitäten in Europa aus geschichtlicher Perspektive

VON KATHARINA GRANZIN

Das Goethe-Institut hat zum Gespräch geladen. Im Zeughauskino, dem Filmsaal des Deutschen Historischen Museums, sollen vor dem Hintergrund der jüngeren politischen Verwerfungen in Osteuropa Fragen rund um die Themen Nationen- und Staatenbildung, kulturelle Identität und Ost-West-Beziehungen behandelt werden. HistorikerInnen aus drei Ländern nehmen am Podium teil, das allerdings, und das ist das Besondere an dieser Veranstaltung, ein virtuelles ist.

Man hat zwischen dem Zeughaus und den Goethe-Instituten in Riga und Moskau eine Videobrücke hergestellt. Während der Moderator der Veranstaltung, der Osteuropa-Experte Johannes Grotzky, und der Potsdamer Historiker Jan Behrends in Berlin das Podium bevölkern, sitzen in Riga der Politologe Ivars Ijabs und der Historiker Aivars Stranga sowie in Moskau die HistorikerInnen Ljudmila Novikova und Alexej Miller. Die Technik klappt. Über die Pixeligkeit der Bilder lässt sich hinwegsehen, die miserable Tonqualität allerdings erschwert manchmal das Verständnis – es gilt ja, die unterschiedlichen Akzente der sämtlich fließend Englisch sprechenden TeilnehmerInnen zu verarbeiten. Das Publikum ist in Moskau und Riga deutlich zahlreicher erschienen als in Berlin. Das liegt wohl in der Natur der Sache.

Johannes Grotzky moderiert souverän und verteilt Redezeiten gerecht. Was die Frage der Nationenbildung angeht, sind insbesondere die Letten angesprochen, für die, so Ivars Ijabs, der Erste Weltkrieg im Grunde einen Glücksfall darstellte, da er zur Bildung des ersten unabhängigen lettischen Staates führte. Aivars Stranga erläutert auf Nachfrage, nein, natürlich brauche eine Nation nicht unbedingt einen Staat, aber im Falle Lettlands habe man sich nun einmal entschieden, einen zu brauchen.

Allerdings sagt Stranga, wenn er von der lettischen Nation spricht, nicht „man“, sondern sehr konsequent „wir“, womit er der einzige in der virtuellen Runde bleibt, der die Rolle des intellektuellen Beobachters offensiv mit einer emphatischeren Sichtweise mischt – obgleich, wie er selbst sagt, die lettische Nation im 19. Jahrhundert erst von Intellektuellen erfunden worden sei.

Niemand hakt nach

Generell ist es spannend zu sehen, wie die Perspektiven sich unterscheiden, auch wenn es an diesem Abend in der gemeinsamen Absicht liegt, sich zu verständigen. Der Russe Alexej Miller bezieht sich auf den deutschen Historiker Jürgen Osterhammel, wenn er erklärt, das 19. Jahrhundert sei eine Zeit der Imperien, nicht der Nationen gewesen, und fügt an, das Konzept des Nationalstaats passe nicht mehr zum heutigen Osteuropa. An anderer Stelle sagt er übrigens, Russland stehe in den nächsten Jahren eine Identitätsdiskussion bevor, die sehr ernste Konsequenzen haben werde. (Da hakt leider niemand nach.)

Grotzky bereichert das Podium mit persönlichen Beobachtungen und steuert die Anmerkung bei, dass früher in seinem Pass gestanden habe, dessen Inhaber sei Deutscher – ein Hinweis, der inzwischen entfernt wurde. Ljudmila Novikova erklärt, die Nationenbildung gehe in der Ukraine einher mit Destabilisierung, Jan Behrends vertritt die Ansicht, eine Nation dürfe nicht ewig beleidigt sein wegen vergangenen Unrechts. Insgesamt wird deutlich, dass alle Teilnehmenden außer den Letten den Nationenbegriff ausgesprochen kritisch sehen; und so ist es wohl ein Moment der wahren Empfindung, wenn Aivars Stranga am Ende im Namen aller Letten äußert: „We sure have fear.“

Hätten all diese hochgebildeten Menschen auf demselben Podium gesessen statt auf drei verschiedenen, wäre es vielleicht ganz anders hergegangen. So verlief der Abend in einem hochzivilisierten Rahmen, in dem alle Positionen eine friedliche Koexistenz pflegen durften und am Ende alle Fragen offen blieben.

■ Zweite Videobrücke (Berlin–Zagreb–Moskau) am 9. 12., 18 Uhr