Politiker und Intellektueller

Zu seinem 50. Geburtstag lässt Exkultursenator Thomas Flierl ein Buch herausgeben, das vor allem eines ist: die Arbeit an seinem Vermächtnis

VON UWE RADA

„Kann man geistig anspruchsvoll und dennoch Politiker sein, und zwar zur gleichen Zeit?“ Gleich zu Beginn seines Nachworts stellt Wolfgang Engler, Soziologe und Direktor der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, die für die Bewertung des ehemaligen PDS-Kultursenators Thomas Flierl so entscheidende Frage. Für Engler ist die Sache klar: „Das geht, unter Umständen, die so erfrischend sind wie selten.“

Für Flierl, der gestern 50 Jahre alt wurde, scheint die Sache nicht so sicher. Deshalb hat er vor seinem Geburtstag zwei Herausgeber gebeten, Texte aus seiner Feder zu sichten, zu verwerfen, zu sortieren. Das Ergebnis liegt nun in Buchform vor. „Berlin: Perspektiven durch Kultur“ heißt der Band, der vor allem eines ist – die Arbeit eines Intellektuellen und Politikers an seinem Vermächtnis.

Aufschlussreich für den Werdegang Flierls ist vor allem eine Rede, die der damals 27-Jährige 1984 im Auftrag der SED-Parteigruppe an der Sektion Ästhetik/Kulturwissenschaften der Humboldt-Universität gehalten hatte. Mit dem Brustton der Überzeugung plädierte Flierl gegen den Abriss der Gasometer am Prenzlauer Berg. Die Denkmale der Industriekultur – und damit der kapitalistischen Ausbeutung – standen dem geplanten Bau des Thälmannparks und der Thälmann-Plastik des sowjetischen Bildhauers Lew Kerbel im Weg. Flierl dagegen suchte sie zu retten und argumentierte mit seinem Verständnis von Geschichtspolitik: „In einer Zeit, in der wir den Dom (die Kirche des Wilhelminischen Kaiserhauses) aufbauen (…), kann man nicht für ein neues Denkmal der Arbeiterbewegung städtebaulich- und kulturgeschichtlich bedeutsame Arbeitsstätten des Proletariats abreißen.“

Bewährung in der Praxis

Aufschlussreich ist die Wortmeldung deshalb, weil sie das Ende der wissenschaftlichen Karriere des Philosophen Thomas Flierl bedeutete – und zugleich die Geburtsstunde des Politikers. Als Reaktion auf die ungehörige Stellungnahme des jungen Kulturwissenschaftlers wird Flierl zur „Bewährung“ in die „kulturpolitische Praxis“ geschickt. Dort bleibt er dann auch. Kurz nach der Wende wird er Leiter des Kulturamts Prenzlauer Berg, später Baustadtrat von Mitte und schließlich von 2002 bis 2006 Kultursenator von Berlin.

Inzwischen aber liegen die Dinge anders. Nicht mehr um Politik und Macht – wie noch bei seinem Vater, dem Architekturtheoretiker Bruno Flierl – geht es nach der Wende, sondern um Politik und Diskurs. Der Geschichts- und nun auch Vermächtnispolitiker Thomas Flierl weiß das und vermeidet deshalb jeden Opfergestus. Im Bemühen, Politiker und Intellektueller gleichzeitig zu sein, legt er stattdessen Beispiele vor, aus denen hervorgehen soll, wie er in diesem oder jenen Fall die Diskurshoheit erlangte – etwa bei der Opernstiftung, dem Mauergedenkkonzept oder der Zwischennutzung der Palastruine. Und wirklich: Gemessen an seinen Vorgängern fällt die politische Bilanz des Thomas Flierl gar nicht so übel aus.

Die intellektuelle Bilanz freilich fällt nicht so eindeutig aus. Anders als Michael Naumann, der ehemalige Verleger und Staatsminister für Kultur, hat Flierl seine politische Karriere nicht durch eigenes Tun beendet. Das wird ihm einen Wiedereinstieg, wie ihn Naumann derzeit in Hamburg probt, nicht leicht machen, auch nicht bei seinen eigenen Genossen.

Im Gegensatz zu seiner Vorgängerin Adrienne Goehler wiederum ist Flierl bereits viel zu sehr Teil des parlamentarischen Systems, als dass er, wie Goehler, mit dem Charme eines Kulturguerilleros agieren könnte. Nur Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD), noch so ein Kulturmensch in Diensten der Politik, hat eine schlechtere Bilanz. Ihm hat der Politikapparat die Intellektualität so richtig aus dem Denken getrieben.

Es ist deshalb bei allem Bemühen ums Vermächtnis erstaunlich, warum Flierl seiner Zukunft, ob als Intellektueller und/oder Politiker, so wenig Raum gibt. Liegt es daran, dass diese Zukunft noch gar nicht entschieden ist? Oder legt man besser den Mantel des Schweigens über die Frage, wie einer als ehemaliger Kultursenator nun wieder im Kulturausschuss des Abgeordnetenhauses sitzen kann, ohne nolens volens zum Inventar der Berliner Muppet-Show zu werden. Joschka Fischer jedenfalls war da konsequenter.

Es droht die Muppet-Show

Eines aber, und auch das gehört zum Vermächtnis, wird man Flierl nach Lektüre dieses Buches nicht mehr unterstellen dürfen – eine geistige Nähe zum Erbe der SED und der Staatssicherheit. In einem Interview mit Ute Tischler, der Leiterin des Kulturamts Lichtenberg, zum Konzept der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen, sagt Flierl: „Wer Guantánamo und Abu Ghraib kritisiert, darf über NKWD und MfS nicht schweigen.“

Wohl aber darf man Flierl die Frage stellen, warum er als Senator nicht immer die rechten Worte zur rechten Zeit gefunden hat. Und die rechten Berater, ohne die auch ein Intellektueller in der Politik unter die Räder kommt.

„Der Hörsaal erträgt den Politiker allemal leichter als das Parlament den Philosophen“, findet Wolfgang Engler in seinem Nachwort zu Flierls Textsammlung. Eine vielleicht zu voreilige Antwort auf eine richtige Frage.

Thomas Flierl: „Berlin: Perspektiven durch Kultur. Texte und Projekte“. Herausgegeben von Ute Tischler und Harald Müller. Reihe Theater der Zeit. 320 Seiten, 16 €