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Archiv-Artikel

Weggeschmissen wird nichts

„Wir nehmen, was wir kriegen“: Im Auftrag der „Berliner Tafel“ sammeln Helfer jeden Monat fast 250 Tonnen Lebensmittel ein und verteilen sie an Bedürftige. Dass die Nachfrage stetig wächst, zeigt der Ansturm auf die öffentlichen Abgabestellen

AKTION „EINS MEHR“

Am Freitag will die Berliner Tafel wieder in mehreren Supermärkten Lebensmittelspenden für Bedürftige einsammeln. Bei der Aktion „Eins mehr!“ können Kunden in fünf Neuköllner „Kaiser’s“-Filialen den ganzen Tag über zusätzlich gekaufte Waren bei Helfern abgeben, teilte der Verein mit. Die Spenden sollen dann über die 43 Ausgabestellen des Projekts „Laib und Seele“ in Kirchengemeinden an Arbeitslose, Rentner, allein Erziehende und sozial schwache Familien abgegeben werden.

An der Aktion beteiligt sind die Kaiser’s-Märkte am Buckower Damm, in der Rollbergstraße, der Johannisthaler Chaussee, der Goldammerstraße und der Delbrückstraße. „Eins mehr!“ findet jeden ersten Freitag im Monat in wechselnden Bezirken statt. Dabei kommen drei bis sechs Europaletten an Waren zusammen. Die nächste Sammlung findet am 3. August in Steglitz-Zehlendorf statt. EPD

VON ANNA LEHMANN

Niemand weiß, dass sie hier ist. Elvira Köstler* ist gegen zehn Uhr gekommen und hat sich in die zweite Reihe links vom Gang gesetzt. Ein guter Platz, sie sitzt in der Nähe des Altars, eine adrette Rentnerin mit rot gefärbten Haaren, heller Bluse und einem Anstecker in Form eines goldenen Schmetterlings. Einmal in der Woche verstaut Köstler zwei Plastiktüten in ihrer Handtasche und fährt eine Stunde mit der U-Bahn von Pankow zur Passionskirche am Kreuzberger Marheinekeplatz. Nicht einmal ihrem Sohn hat sie von diesem wöchentlichen Ausflug erzählt. „Ach, der würde sagen: Mama, was machst du denn da?“

Jeden Donnerstag ab zwölf Uhr werden in der Passionskirche Lebensmittel an Bedürftige verteilt. Immer mehr Menschen leben von diesen Spenden. Die „Berliner Tafel“, die vor 14 Jahren damit begann, aussortierte Supermarktwaren einzusammeln und zu verteilen, versorgt inzwischen monatlich 125.000 Menschen. Die Anzahl sei „irre gestiegen“, sagt Tafel-Gründerin Sabine Werth. Besonders seitdem der Verein mit den Kirchen und dem Rundfunk Berlin-Brandenburg die Aktion „Laib und Seele“ startete und im Januar 2005 die erste öffentliche Abgabestelle in der Passionskirche eröffnete.

Jeder, der mit weniger als 900 Euro im Monat auskommen muss, kann sich hier einmal pro Woche kostenlos Brot, Wurst, Obst und Gemüse abholen. 43 dieser Abgabestellen gibt es inzwischen in Berlin. Einige haben sich ihre eigenen Märkte und Bäcker als Spender erschlossen, wie die Gemeinde Heilig-Kreuz-Passion. Die Mehrzahl wird weiterhin von der Berliner Tafel beliefert. Sie rettet Monat für Monat 240 Tonnen Lebensmittel, die ihr Verfallsdatum noch nicht erreicht haben, vor dem Müll. Trotzdem: „Für die steigende Zahl von Bedürftigen haben wir zu wenig“, sorgt sich Sabine Werth.

Die 15 Kleintransporter der Tafel sind jeden Tag im Einsatz. Detlef Pleschke ist seit acht Uhr mit dem Iveco unterwegs. In der Karl-Marx-Straße hat er zwei Kisten Gebäck bei „Back und Brötchen“ eingeladen, jetzt fährt er weiter zu „Kaufland“. „Freundlich fragen, ob sie was haben“, steht als Anmerkung auf der Liste, die Beifahrer Patrick auf den Knien hält.

Pleschke fährt seit einem Dreivierteljahr für die Berliner Tafel, für 1,50 Euro die Stunde. Er war schon Pferdepfleger, Lagerarbeiter, Staplerfahrer und Pförtner. Seitdem sein letzter Arbeitgeber, ein Kohlenhändler, vor zwei Jahren in den Ruhestand ging – „Die stellen ja alle auf Zentralheizung um“ –, hat er wieder einen Job, der ihm Freude macht. „Man kann was tun für die Leute, die es wirklich nötig haben.“ Er hat Glück gehabt: Für jemanden wie ihn, 49 Jahre alt und ungelernt, hat das Jobcenter nicht viel im Angebot.

Pleschke biegt von der Karl-Marx-Straße ab, fährt in den Lieferhof von Kaufland, manövriert den Wagen rückwärts an die Rampe, geht zum Fahrstuhl und klingelt: „Manchmal wart ick hier ne Stunde.“ Er zündet sich eine Zigarette an.

Hinter Elvira Köstler füllen sich derweil die Reihen. Sie plaudert sich mit ihrer Banknachbarin durch die Wartezeit. „Eine sehr intelligente Frau“, sagt sie später. Köstler hat zaghafte Freundschaften geschlossen, obwohl: Die meisten der Umsitzenden seien sonst nicht so ihr Umgang. „Ich hätte es nie gedacht, dass ich meinen Lebensabend mal damit verbringe, zur Sammelstelle zu gehen.“ Sie, die 30 Jahre lang Kosmetika verkauft hat, durch die DDR gereist ist und Verkäuferinnen geschult hat. Aber von 800 Euro Rente bleiben ihr nun monatlich 150 Euro zum Leben. Sie gönnt sich eine Monatskarte für den Nahverkehr und hin und wieder einen Theaterbesuch. Vor einem Jahr las sie von der Ausgabestelle und fuhr hin. Sie wurde herzlich begrüßt, das nahm ihr die Befangenheit. „Ich spare am Essen. Aber ist das würdig?“ Elvira Köstler blickt zum Altar.

Detlef Pleschke hält den Klingelknopf am Kaufland-Fahrstuhl gedrückt und erklärt: „Man muss die da unten ein bisschen nerven.“ Es ist schwül, er hat die Cordjacke ausgezogen. Seinen rechten Unterarm ziert ein Tattoo, es sieht aus wie eine Kaulquappe. Eigentlich sollte es ein Tigerkopf werden. Den hat ihm ein Kumpel gestochen, damals in einem der Berliner Kinderheime, die ab dem sechsten Lebensjahr sein Zuhause waren.„Det war schon nich verkehrt im Heim. Da haben se mir beigebracht bitte zu sagen und danke.“

Eine Viertelstunde später schickt ein Kaufland-Mitarbeiter zwei Kisten mit Gemüse hoch. Nicht gerade viel für den riesigen Supermarkt mit über 2.000 Quadratmetern Verkaufsfläche. Detlef Pleschke bedankt sich trotzdem höflich: „Wir nehmen alles, was wir kriegen.“

Nach einem Abstecher zu einer Bäckerei – „Der stellt nur hartes Zeug raus und will hinterher noch nen Zettel, damit er’s von der Steuer absetzen kann“ – parkt Pleschke den Transporter vor dem „Plus“ in der Köpenicker Straße. Pleschke zündet sich die nächste Zigarette an und schickt Patrick zur Filialleitung: „Ick sag dir, die ham nüscht. Aber versuchen musste trotzdem.“

Kurz vor Mittag sitzen gut 90 Menschen im Altarraum. Doppelt so viele stehen auf der Empfängerliste des Ausgabeteams. Man hat die Familien gebeten, jeweils nur einen Vertreter zu schicken, damit es nicht zu voll wird. „Die ersten kommen um sechs“, sagt Ute Preisner. Sie leitet die Ausgabe. Die Helfer arbeiten ehrenamtlich, sind Rentner oder Hartz-IV-Empfänger wie sie. Kisten werden auf Tische gehievt, Tüten gepackt, Preisner selbst wird sich gleich an die Kasse setzen. Einen Euro nimmt sie von jedem. Ein dünner Schweißfilm überzieht ihre gebräunte Haut, aber sie sieht euphorisch aus: „Man bekommt so viel zurück.“

Patrick kommt zurück: „Wir sollen gegen zwölf nochmal vorbeischauen.“ Pleschke überlegt: Zwölf ist zu spät, um eins muss er in der Beusselstraße bei der Zentrale der Tafel sein. Dort werden die Spenden sortiert, bevor die ersten Vereine sich ihre Rationen abholen. 400 Einrichtungen, darunter Schülerläden, Jugendclubs und Kirchengemeinden, versorgt der Verein. Einmal pro Woche liefert Detlef Pleschke Waren aus. 5 von 16 Abnehmern gingen letztes Mal leer aus, weil der Wagen schon leer war.

Die gestiegene Nachfrage begründet Sabine Werth mit einer gesunkenen Hemmschwelle. „Es gibt mehr Menschen, die sagen: ‚Ich brauch das jetzt‘, obwohl sie es eigentlich schon länger gebraucht hätten.“ Herr Grell* etwa. Der Diplom-Chemiker hatte Anfang der 90er die letzte feste Stelle. Vor einem Jahr wagte er sich erstmals in die Passionskirche. Lange habe er mit sich gerungen, sagt er. „Es ist ja ein Stigma.“ Er nimmt die Brille ab und knetet sein Gesicht. Seine Frau sei immer noch dagegen, aber er hat die Frage „Wurst oder Würde“ für sich entschieden: „Man kann bis zu 10 Euro sparen.“

Der Lieferwagen ist noch zu zwei Dritteln leer, Pleschke fährt schneller jetzt, zu „Lidl“ am Maybachufer. „Da müssen wir viel aussortieren.“ Ein Mitarbeiter mit gegeltem Igelhaar schiebt Paletten raus. Pleschke und Beifahrer Patrick sortieren aus: vier Paletten schimmlige Erdbeeren aus Spanien – „Lassen wir da“ –, Pfirsiche aus Italien – „Die guten pack hier rein“ – und Möhren aus Deutschland – „Nimm mit, die sind noch nicht schwarz.“

Eine Frau nähert sich. Mit zahnlückigem Lächeln deutet sie auf die Waren. Pleschke schüttelt den Kopf: Er kann ihr nichts geben, damit würde er seinen Job riskieren. In letzter Zeit sind die Mitarbeiter der Tafel ohnehin alarmiert. „Wir werden beklaut ohne Ende“, sagt Tafel-Chefin Werth. Pro Woche verschwinden bis zu zehn Transporterladungen. Werth vermutet, dass ehemalige Mitarbeiter die Waren für ihre Projekte abzweigen. Gegen einen hat sie Anzeige erstattet.

Die Fahrer steuern „Kaufland“ an. „Freundlich fragen, ob sie was haben“, steht auf ihrer Liste In der Passionskirche schiebt man sich an den Tischen vorbei: Vielleicht Melonen? Mögen Sie Wurst?

„Wenn wir kommen, heißt es: War schon einer da“, sagt Pleschke und steuert den nächsten Lidl an. Plötzlich zieht er rechts rüber und stoppt. „Wat macht denn der Tafel-Wagen vor dem Bäcker? Ist doch nicht sein Gebiet.“ Er steigt aus. Als er zurückkommt, winkt er ab. Falscher Alarm. „Der wartet auf jemand.“

In der Charlottenstraße werden die Fahrer erwartet. Die gehetzt wirkende Filialleiterin zeigt auf achtlos gestapelte Kisten unter dem Schild „Abgeschriebene Ware“: „Könnt ihr alles haben.“ Weg ist sie. Die beiden sortieren.

Um zwanzig nach zwölf ist Elvira Köstler dran. Die Leute in ihrer Bankreihe erheben sich und gehen hintereinander nach vorn. Rechts vom Altar sitzt Ute Preisner. Sie gibt Essensmarken aus, auf deren Rückseite die Anzahl der Personen im Haushalt vermerkt ist. Man schiebt sich an den Tischen mit den Waren vorbei, hinter denen Mitarbeiter stehen: Vielleicht Melonen? Hier ist noch Milch, aber bitte heute verbrauchen! Mögen Sie Wurst? Mit gereckten Köpfen, Rollwagen hinter sich her ziehend, inspizieren die Leute das Angebot.

Elvira Köstler packt Pflaumen, Wurst und Biobrot ein. Als ihr Sohn arbeitslos war, hat sie ihm manchmal einen Beutel an die Wohnungstür gehängt. „Ich habe dann gesagt, auf dem Markt habe ich zweimal gekauft, das war billiger.“ Geschwindelt hat sie, aber ihr Gesicht gewahrt. Ihr Junge kennt sie doch ganz anders.

„Ick koof mir lieber was“, Detlef Pleschke beißt in einen Amerikaner. Auf Spenden sei er noch nicht angewiesen, obwohl neben drei Kindern und Ehefrau noch ein Rudel Hunde, Katzen, Hasen und Meerschweinchen versorgt. „Aber ick brauch nich viel.“ Bis Januar bezahlt ihn die Arbeitsagentur als Tafel-Fahrer, danach wird der Job vielleicht verlängert. Wenn nicht, fährt er eben ehrenamtlich weiter. „Man soll nich immer nur an sich selbst denken“, sagt er und schaltet einen Gang hoch. Die Zentrale wartet auf die Lieferung. Am Nachmittag wird er zum Bauern rausfahren und ihm die aussortierten Spenden bringen. Der Bauer verfüttert sie an die Schweine. Weggeschmissen wird nichts.

* Name geändert