Wie lang einem das Leben doch werden kann

LITERATUR Der flämische Autor Stefan Hertmans beschreibt ein Leben im 20. Jahrhundert: „Der Himmel meines Großvaters“. Sein so schönes wie lehrreiches Buch ist in Deutschland noch zu entdecken

Aber auch der klassische Künstlerroman hat seine Spuren hinterlassen, die frühe Einsamkeit des jungen Begabten

VON STEPHAN WACKWITZ

Weit und bewegt sind die historischen Zeiträume, die Stefan Hertmans’ creative non-fiction memoir „Der Himmel meines Großvaters“ erzählerisch umspannt, beschaulich dagegen die narrative Atmosphäre, die dieses sehr schöne und von Ira Wilhelm in ein angenehm kompetentes Deutsch übersetzte Buch trägt. In Hertmans’ Erinnerungsraum herrscht das indirekte Licht, das von schräg oben (wie aus einem Jenseits) in die unbewegten Interieurs der niederländischen Stillleben des 17. Jahrhunderts fällt.

Erzählt wird von Hertmans’ Großvater Urbain, dem Sohn eines sich noch ganz als Handwerker verstehenden Genter Kirchenmalers. Dem sozialen Aufstieg des frommen, begabten und sensiblen Jungen aus kleinbürgerlicher flämischer Familie stehen in der traditionellen belgischen Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts nur zwei gangbare Alternativen offen: Pastor oder Soldat. Nach einer strapaziösen Lehrzeit in einer Eisengießerei wird er aufgenommen an der Kriegsakademie und gerät von 1914 bis 1918 in den Horror des belgischen Kriegsschauplatzes. Schon vor dem Krieg hat er damit begonnen, seinem bewunderten Vater nachzueifern, indem er sich in Abendkursen zu einem „detailverliebten Kleinmeister“ der Malerei weiterbildet.

Der Eisengießer und Berufssoldat hinterlässt nach seinem Tod einen künstlerischen und einen literarischen Nachlass (die in Wort und Bild zum Material dieses Buchs geworden sind): eine Reihe von Kopien großer Meister und ein 600 Seiten langes Manuskript über seine Kriegserlebnisse.

Wenn man genau hinschaut, erkennt man im eigenen und in fremden Lebensläufen die Romane, denen sie unbewusst folgen. Stefan Hertmans, der 1951 in Gent geboren wurde, malt die Hinterlassenschaften seines Großvaters zu einem Art-of-fact-Lebensroman aus, in dem sich Motive und Topoi des Künstlerromans mit dem des Heldenromans verschränken. Bei der Rekonstruktion der Kriegserlebnisse Urbains treibt Hertmans die Identifikation so weit, dass er die Perspektive seines Großvaters in der ersten Person einnimmt, Dialoge erfindet, die Gefühle seines Personals offenlegt mithilfe des style indirect libre, der erlebten Rede.

Der industrialisierte Krieg

Das Entsetzen, die Sinnlosigkeit, der Verlust aller überkommenen moralischen Maßstäbe im ersten industrialisierten Krieg ist dargestellt aus einer dezidiert nichtheldischen und zugleich unzynischen Perspektive. Das langsame Herunterkommen des wohlanständigen jungen Mannes aus bildungskleinbürgerlichem Haus, der sich unter dem Regiment arroganter wallonischer Offiziere in einen verdreckten, verlausten, zerschossenen und apathischen Zombie verwandelt, dem für seine Tapferkeit (wie zum Hohn) die höchsten belgischen Orden umgehängt werden, ist so hoffnungslos und detailliert erzählerisch nachvollzogen, dass einem die Lektüre passagenweise schwer wird. Sein Protest gegen einen sinnlos-suizidalen Einsatzbefehl gegen das Ende der Kampfhandlungen (den er natürlich trotzdem befolgt) bringt ihn ungeachtet seiner Orden und Verwundungen um seine Beförderung und um die entsprechende Pension.

Es ist das Motiv des betrogenen Verdienstes, das wir aus der biblischen Josephsgeschichte, dem Herakles-Mythos und unzähligen Ritter- und Heldenromanen kennen. Hier zeigt sich die von Michael Rutschky in seinem unterschwellig folgenreichen Buch von 1997 ausbuchstabierte Dialektik des „Lebensromans“: All diese Ereignisse und Gefühle sind in diesem Lebenslauf ja wirklich vorgekommen. Und zugleich entdecken wir in ihnen sehr alte literarische Pathosformeln wieder.

Aber auch der klassische Künstlerroman hat im Leben Urbains seine Spuren hinterlassen. Es findet sich die frühe Einsamkeit des jungen Begabten, der unberatene, oft hoffnungslose Kampf mit den Schwierigkeiten der Kunst, das Schließlich-Erkanntwerden von einem Größeren (seinem Vater). Und vor allem findet sich das starke und wohlbekannte Künstlerroman-Motiv der großen, scheiternden Liebe, die dann zum Antrieb für ein ganzes der Kunst gewidmetes Leben wird. Der junge Heimkehrer aus dem großen Krieg verlobt sich mit einer jungen Frau aus der Genter Nachbarschaft, von der er schon vor dem Krieg heimlich geträumt hat, und erlebt kurze Zeit lang das Glück. Worauf sie an der Spanischen Grippe stirbt und er eine konventionelle und wenig erfüllende Ehe mit ihrer Schwester eingeht.

„Nie, so sagte er bald, hätte er es geglaubt, wie lang die Tage, die Zeit und das Leben einem werden könnten, wenn man auf das Abstellgleis gestellt sei.“ Unter das Motto dieses Satzes von W. G. Sebald stellt Hertmans den dritten Teil seines Lebensbilds. Es ist ein trauriges, konservatives, katholisches, armes Leben, zerstört durch Krieg, materielle Einschränkung und Resignation, aufgehellt aber durch die künstlerischen Interessen und artistic practices des früh gealterten und geistig in der Vorkriegszeit arretierten Mannes, der die großen Meister kopiert, ins Museum und in die Kirche geht, was für ihn fast dasselbe zu sein scheint.

Der Großvater ist eine familiär personifizierte Vergangenheit, die in Hertmans’ Leben offenbar die Rolle einer Art Koordinatenursprung gespielt hat, an dessen Nullpunkt alle seine Erlebnisse und Leistungen gemessen werden. „Es ist still im Saal der Erinnerung. Vorsichtig und schweigsam schlendere ich darin herum wie ein Mann in einem imaginären Museum, die Hände auf den Rücken gelegt, hinter mir geht eine Frau vorbei und fächelt sich mit einem Museumsprospekt Luft zu, ohne auf den merkwürdigen Mann zu achten, der mit einem schafsartigen Lächeln auf dem Gesicht die Brille abnimmt, sich dem Gemälde zuneigt, sich gedankenverloren fast die Nase auf der alten Leinwand im abbröckelnden Goldrahmen plattgedrückt und plötzlich noch breiter lächelt, weil er ein Detail entdeckt hat, das nur er sehen kann.“

Es ist bemerkenswert und vielleicht für den Unterschied zwischen der geistigen Atmosphäre in Belgien einerseits und andererseits in Deutschland bezeichnend, wie viel musealer und meditativer die Vergangenheit des 20. Jahrhunderts in Hertmans’ Dokumentarroman wiederbelebt wird als in den Familienromanen, die W. G. Sebalds literarisches Erinnerungsprojekt in Deutschland seit Beginn des Jahrhunderts inspiriert hat. Man ist versucht, in dieser eindrucksvollen Differenz die Unterscheidung wiederzukennen, die Benjamin in seinen „Geschichtsphilosophischen Thesen“ zwischen dem Historismus und dem Verfahren des „historischen Materialisten“ vornimmt.

Letzterer verschmäht es, wie Benjamin provokativ und in revolutionärer Attitüde kurz vor seinem Tod schreibt, „bei der Hure ‚Es war einmal‘ im Bordell des Historismus sich auszugeben“ (dieses Boudoir ist eine unhöflich abgewertete Version von Hertmans’ „Saal der Erinnerung“). Und es ist vielleicht kein Zufall, dass dieses wichtige und schöne Buch in Deutschland so gut wie übersehen worden ist und, wenn man dem Rezensionskatalog im „Perlentaucher“ glauben darf, seit seinem Erscheinen im August dieses Jahres nur von Gustav Seibt besprochen wurde. Die deutschen Erinnerungsbücher sind viel stärker bezogen auf die Gegenwart. Sie, so scheint es, wollen „ihrer Kräfte Herr“ bleiben, wie Benjamin schreibt, „Manns genug, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen“.

Diese Intention ist Hertmans fremd, und das ist der Quellgrund für den stillen, im Wortsinn und nicht abwertend zu verstehen: beschaulichen Ton seines Erinnerungsunternehmens. Insofern ist mit Hertmans’ „Der Himmel meines Großvaters“ nicht nur ein schönes und lehrreiches Buch aus unserem Nachbarland zu entdecken, sondern auch etwas zu lernen über unser eigenes Verhältnis zur Geschichte des vergangenen Jahrhunderts.

■ Stefan Hertmans: „Der Himmel meines Großvaters“. Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm. Hanser Berlin, Berlin 2014, 320 Seiten, 21,90 Euro