Lernen und leben lassen

Die Sonnenblumen-Grundschule in Treptow ist eine Ganztagsgrundschule, die ihren Schülern viel mehr als nur Unterricht bieten will. „Kinder haben ein Recht auf Lernen“, findet der Schulleiter. Und auf Freizeit: in fantasievoll gestalteten Räumen, mit vielfältigen Angeboten – und einer Menge Tiere

VON ALKE WIERTH

Roland Hagelstange sagt ziemlich oft ziemlich erstaunliche Sätze. „Kommen Sie einfach vorbei, wenn Sie Zeit haben“, ist so ein Satz. Der Leiter der Treptower Sonnenblumen-Grundschule wird sich die Zeit für den Besuch dann schon nehmen. Oder: „Kinder haben ein Recht auf Lernen. Aber auch auf Freizeit.“ Denn: „Sie müssen ja auch etwas haben von ihrer Kindheit.“

Mit seinem eigenen Recht auf Freizeit nimmt es Hagelstange nicht so genau. Seit 16 Jahren leitet er die Ganztagsschule in dem ruhigen Wohngebiet zwischen Plänterwald und Königsheide. Er sei extra in die Nähe gezogen, sagt er – noch so ein erstaunlicher Satz. Viele Lehrer ziehen es vor, möglichst weit entfernt von ihren Unterrichtsstätten zu wohnen. Aber: „Sie kriegen ja sonst vom Kiez nichts mit“, erklärt Hagelstange. Außerdem muss er auch am Wochenende oft die Schule aufschließen: Die Turnhalle wird von Eltern des Fördervereins genutzt, im Keller will der Schachclub spielen, und anderswo übt jemand von der Musikschule des Bezirks Trompete.

Pausen zum Essen, Toben, Ausruhen

Das kommt daher, dass die Sonnenblumen-Grundschule die Umgestaltung zur Ganztagsschule und die damit verbundene Rhythmisierung von Unterrichts- und Freizeitangeboten geradezu vorbildlich verwirklicht hat. Unterricht gibt es in größeren und kleineren Blöcken über den ganzen Tag verteilt, dazwischen kürzere und längere Pausen, die zum Essen, Spielen, Toben und Ausruhen dienen. Schachclub und Musikschule dürfen das Gebäude nutzen, weil sie unter der Woche in die Gestaltung des Schulalltags eingebunden sind. Genau wie der Judoclub PSV Olympia und die Stadtbibliothek, das Forstamt Treptow und das Theater an der Parkaue. Alles Partner der Schule, die im Unterricht und außerhalb Angebote für die Sonnenblumen-Kinder machen. Dafür müsse man ihnen ebenfalls etwas bieten, sagt Hagelstange: „Partner sind keine Dienstleister, die machen, was die Schule will.“ Man muss sie pflegen – den Kindern zuliebe.

Kinder haben ein Recht, gefördert zu werden“, sagt Hagelstange. Ein wichtiger Punkt im pädagogischen Konzept seiner Schule sei, dass individuelle Förderung großgeschrieben werde. „Wir müssen die Individualität der Kinder aber auch respektieren“, meint der Schulleiter: „Wir können aus einem Goldfisch keinen Delfin machen.“

Auch im Freizeitbereich der Schule hat Hagelstange ein kleines Paradies erschaffen. Untergebracht ist es in einem eher abgerissen wirkenden, flachen Plattenbau auf dem Schulgebäude. Von innen erweist sich die Bausünde als Perle. In zehn Räumen bieten sich den Schülern zehn verschiedene Welten. Da gibt es die Kuschelkammer für Mittagsschläfer oder die, die mal einer Geschichte lauschen wollen: mit Sternen unter der blauen Decke, Kissen und einem gemütlichen Zelt in der Ecke des Zimmers. Ein Raum bietet ein Klettergerüst, das bei Regen locker den Spielplatz ersetzt. Dann folgen der Bastelraum und die Bibliothek, die auch Gesellschaftsspiele anbietet. An den Wänden paddeln Fische durch Aquarien, überall ist es aufgeräumt und sauber – längst keine Selbstverständlichkeit an den mit Personal chronisch unterversorgten Berliner Schulen.

Roland Hagelstange ist stolz auf seine Schule, und es ist ihm zu gönnen. „Schweißgetränkt“ sei das alles, sagt er auf die Frage, wie er diese Bedingungen geschaffen hat. Kurz nach der Wende hat er die Leitung der Treptower Grundschule übernommen. Schon vorher schwebte ihm ein Lernmodell vor, das sich von dem, was er als Lehrer an einer Polytechnischen Oberschule in Ostberlin kennen gelernt hatte, unterscheiden sollte. Werkkunde hatte er dort unterrichtet, sein Traumfach Geschichte hatte er nicht studieren dürfen. Für dieses sensible Fach erschien er den Verantwortlichen wohl nicht gesinnungstreu genug.

Das Leben in die Schule holen

Geschichte hat er nach dem Ende der DDR doch noch studiert – und sich gleichzeitig darangemacht, seine Grundschule aufzubauen. Kollegin Petra Bittins von derselben Oberschule, heute seine Konrektorin, half ihm dabei. „Wir wollten das Leben in die Schule holen“, beschreiben die beiden ihre Ideen von damals – die Schule zu einem Ort machen, der mehr ist für die Kinder als ein Platz, an dem Wissen in sie hineingestopft wird. „Und dann stellte man uns das Schulgesetz ins Büro und sagte ‚So läuft das jetzt‘ “, erinnert sich Bittins.

Die beiden haben sich nicht entmutigen lassen. Mit Mitteln aus dem Ganztagsschulprogramm des Bundes, von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, dem Europäischen Umweltentlastungsfonds und mit viel Herzblut haben sie sich an die innere und äußere Umgestaltung ihrer Schule gemacht. LehrerInnen und ErzieherInnen der Sonnenblumen-Schule sind für Berliner Verhältnisse erstaunlich jung – vom alten Kollegium sind nicht viele geblieben. Manchen habe er deutlich nahegelegt, sich besser woanders zu bewerben, sagt Hagelstange. Jetzt hat er ein Team, das mit seinem Konzept etwas anfangen kann und will. Die 420 Kinder der Schule kommen überwiegend aus der direkten Nachbarschaft. Die bietet hier eine ziemlich breite soziale Mischung: Manche Schüler kommen aus Flüchtlingsheimen, alte Mietskasernen mit billigem Wohnraum gibt es in der Umgebung ebenso wie hübsche Einfamilienhäuser mit gepflegten Gärten. Der Anteil von Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache beträgt an der Sonnenblumen-Grundschule 7,9 Prozent.

Dass das in den Augen vieler KollegInnen paradiesisch klingt, weiß Hagelstange. Soziale Probleme sind aber auch in seinem Einzugsgebiet keine Ausnahme. Arbeitslosigkeit, Armut, Eltern, die das Mittagessen der Schule nicht bezahlen können – Treptow ist keine Insel der Seligen.

Auch deshalb will Hagelstange eine Schule, die den Kindern auch ein Zuhause ist. Sie sollen Sicherheit, Zuwendung, Aufgehobenheit erleben. Eine große Hilfe dabei sind die vielen Tiere in der Sonnenblumen-Grundschule. Die Kaninchen im Foyer werden ebenso von den Kindern gepflegt wie die gerade neu geborenen Hamster oder die Ratte im Freizeitraum. Ein Teil des Futters wächst im Schulgarten. „Als wir die Tiere neu hatten, mussten wir die Kinder um vier aus der Schule treiben“, erzählt Hagelstange. Jetzt träumt er von einer Schülerfirma, in der die Kinder ihren MitschülerInnen umweltfreundliche Materialien für den Schulalltag verkaufen sollen. Dass das nicht ohne Unterstützung durch Erwachsene geht, ist ihm klar: „Hier hat eben jeder noch eine Aufgabe nebenbei.“

Und wenn er sich etwas für seine Schule wünschen dürfte? „Respekt“, sagt Roland Hagelstange. „Ich wünsche mir für alle Schulen, dass diejenigen, die Schule von außen sehen, Eltern, Medien, Politiker, auch die Verwaltung, unsere Arbeit vorurteilsfrei betrachten.“