DINGE IN TÜTEN
: In Szenen denken

Was, wenn es ein menschlicher Körperteil wäre?

Der Mann mit der Rewe-Tüte sitzt mir gegenüber. Ich glaube, er saß schon auf diesem Platz, als ich eingestiegen bin. Seine Jacke ist schmutzigblau, es ist eine dieser wattierten oder aufgeschäumten, fluffig-glänzenden Steppjacken. Er hat einen schütteren Bart und hervorquellende Augen. Sein Blick geht ins Leere.

Die Rewe-Tüte hält er auf dem Schoß und tastet sie vorsichtig ab, zärtlich fast, denke ich. Etwas ist in sie gewickelt, das ungefähr die Ausmaße eines großen Chinakohls hat oder eines kleinen Schweineschinkens. So eines geräucherten spanischen Schinkens mit Klaue dran.

Rein theoretisch, denke ich, könnte es auch ein menschlicher Körperteil sein, den er da im Schutz der Tüte befühlt. Ein interessanter Gedanke. Was, wenn es ein menschlicher Körperteil wäre? Ein muskulöser Oberarm voller Tätowierungen vielleicht? Gäbe es dafür irgendeine denkbare Erklärung, die keine strafrechtliche Relevanz besäße? Er könnte den Arm gefunden haben. Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Sein weiteres Verhalten würde es aber noch nicht erklären, denke ich.

Gerade versuche ich, eine plausible Hypothese zu entwickeln, als mir einfällt, dass Max Goldt in einem frühen Text ebenfalls einen Mann beschreibt, dem er in der U-Bahn gegenübersitzt , der auf dem Schoß eine Tüte hält, in der sich … es folgt dann eine narrative Assoziationskette, in der, so scheint es mir, seltene Schallplatten-Fehlpressungen eine Rolle spielen und eine todgeweihte Diva, genau weiß ich es nicht mehr, ich könnte zu Hause nachsehen, aber offenkundig sind meine Mutmaßungen bloß der Abklatsch einer literarischen Vorlage.

Weshalb ich sicher keine „Berliner Szene“ über diese Begebenheit schreiben werde, denke ich, als der Mann mit der Tüte aussteigt. Das heißt – denke ich schnell hinterher –, wie ich mich kenne, am Ende doch.

CLAUDIUS PRÖSSER