Bauen, als ob man schwebte

Mehr als Nierentisch und Großraumbüro: Eine Ausstellung im Braunschweigischen Landesmuseum beschäftigt sich mit den Arbeiten des Architekten Friedrich Wilhelm Kraemer. Der zeigte in seinem entschiedenen Bekenntnis zur Moderne eine Konsequenz, die der Stadt heute fehlt

von BETTINA MARIA BROSOWSKY

Zum Stichwort „Architektur der 50er Jahre“ hat jeder passende Bilder parat: Nierentisch, Cocktailsessel und Tütenlampe im Wohnzimmer, papierdünne, kühn aufwärts schwingende Vordächer und goldeloxierte Fassadensprossen als Erkennungszeichen der äußeren Gestalt. Im Rückblick tendenziell liebevoll besetzt, gilt sie als Ausdruck der provinziellen Unbedarftheit des Wiederaufbaus. Dass sie jedoch meist auf einer traditionalistischen Geisteshaltung fußt, oft in unmittelbarer personeller Kontinuität zur offiziellen Architekturproduktion im „Dritten Reich“, wie die einschlägige Forschung nachgewiesen hat, wird dabei geflissentlich übersehen.

Problematischer gestaltet sich die Akzeptanz des baulichen Nachlasses der Jahre um 1960 bis in die Mitte der 70er. Sie sind die eigentlichen Jahre des Wirtschaftswunders mit einer immensen, ganze Stadtbilder prägenden Bautätigkeit und einem Rekord an Beschäftigten im Bauhauptgewerbe von rund 1,7 Mio. im Jahr 1965 in der alten Bundesrepublik. Zum Vergleich: 2006 waren es im Jahresdurchschnitt 710.000 Beschäftigte in Ost- und Westdeutschland zusammen.

Anschluss an die Moderne

Diese zweite Phase der bundesdeutschen Nachkriegsarchitektur suchte den Anschluss an die internationale Moderne in der Überwindung traditionalistischer Vorbilder, wie es beispielhaft am deutschen Pavillon auf der Weltausstellung 1958 in Brüssel zu sehen ist: klare Formensprache, Verweigerung einer vordergründigen Bildhaftigkeit und Reduktion auf wenige kubische Grundformen. Durchlässige, transparente Erdgeschosszonen verzahnen Innen und Außen und bilden, vereinfacht ausgedrückt, das gestalterische Repertoire dieser neuen Architektur.

„Bauen, als wenn Du schwebst“: Diese proklamierte Leichtigkeit war fortan das Credo ihrer Protagonisten, und es gab wohl keine Bautypologie im Wohnen, in der Bildung, in Handel und Verwaltung, die nicht einer radikalen Revision und Systematisierung unterzogen wurde.

Neues Lebensgefühl

Die neuartigen ästhetischen Erfahrungen jedoch waren keine bloße baukünstlerische Selbstreferenz. Sie sollten Sinnbild sein eines zivilgesellschaftlichen Aufbruchs und dessen Lebensgefühl und wurden wohl auch so empfunden. Ein Fortschrittsglaube durchzog alle Lebensbereiche, Architekten antworteten mit baulichen Strukturen, die scheinbar jede Aufgabe bewältigen konnten.

Dass in dem Überschwang auch wahre Sünden begangen wurden, liegt auf der Hand, allem voran das Großraumbüro, eine – häufig als amorphe Bürolandschaft in grobschlächtig polygonalem Baukörper daherkommend – heute kaum noch nachgefragte Immobilie.

Eine grundsätzliche Diskreditierung dieser Architekturepoche aber, wie sie der vernachlässigte Erhaltungszustand gerade im öffentlichen Hochbau suggeriert, missachtet ihren kulturhistorischen Wert. Damit verspielt man zugleich die Möglichkeiten, den bewahrenswerten Teil ihrer Bauzeugnisse weiter zu unterhalten.

So verwundert es auch nicht, dass sich kaum noch Architekten größerer Bekanntheit erfreuen. Friedrich Wilhelm Kraemer (1907–1990) ist ein solcher, fast völlig aus dem Bewusstsein verschwundener Architekt. Anlässlich seines hundertsten Geburtstags zeigt das Braunschweigische Landesmuseum unter dem etwas pathetischen Titel „Gesetz und Freiheit“ eine Ausstellung zu Leben und Werk des Architekten.

Internationale Wende

In ihr wird der Wirkung nachgegangen, die Kraemer als Architekt, Hochschullehrer und Wettbewerbsjuror auf die Architektur in Zeiten des Wirtschaftswunders entfaltet hat. In Braunschweig, seiner Studienstadt, realisierte er vor 1945 mit seinem Büro eine beachtliche Anzahl bodenständiger Wohnhäuser für eine betuchte Klientel, zugleich war er auch als Vertrauensarchitekt der Deutschen Arbeitsfront im Gewerbebau tätig.

In den 50er Jahren vollzog Kraemer eine Wende hin zu internationalen Tendenzen in der Architektur. Seine Lehrtätigkeit ab 1946 an der lokalen Technischen Hochschule nutzte er zu Kontakten und Reisen – mit und ohne Studenten – in Richtung Skandinavien und England, vor allem aber der USA, von denen auch sein stetig wachsendes Architekturbüro profitierte. Das führte er auf Drängen seiner Mitarbeiter ab 1960 als Architektenpartnerschaft nach amerikanischem Vorbild.

Spröder Charme

Das umfangreiche architektonische Werk des Büros findet einen Höhepunkt um 1960 mit Bauten quer durch die Bundesrepublik, zeitweilig sollen über 20 Projekte gleichzeitig geplant worden sein. Einige bemerkenswerte Bauten stehen in Braunschweig und lohnen einen zweiten Blick, so die Geschäftshäuser, die trotz Veränderungen zu den tragfähigsten in der Stadt gehören.

Kraemers Braunschweiger Hauptwerk jedoch ist das Forum mit dem Auditorium Maximum der Universität von 1960, im Jahr 1971 um den Bibliotheksbau ergänzt. Dem spröden Charme von Platzraum und umgebenden Gebäuden vermag sich wohl auch heute kaum jemand zu entziehen, das kultivierte Wechselspiel mit dem Altbau aus dem 19. Jahrhundert ist vorbildhaft. Man spürt, wie Architektur und Städtebau im Ringen um die Kongruenz von Inhalt und ästhetischer Aussage eine fast zeitlose Beständigkeit erreichen.

Mut zum Urbanen

Der Mut zu diesem entschiedenen Stück urbaner Moderne kontrastiert um so deutlicher mit der Beliebigkeit des aktuellen Rekonstruktionswahns in dieser Stadt. Gut, dass die Bauten des Forums in den nächsten Jahren einer behutsamen Sanierung, wenn auch vorerst nur der Innenräume, unterzogen werden sollen. Und vielleicht ziehen irgendwann ja auch wieder die Wolken von Hans Arp silberweiß über die schwarze Fläche des Audimax.

Ausstellung „Gesetz und Freiheit“: bis zum 12. August im Braunschweigischen Landesmuseum, Ausstellungszentrum Hinter Aegidien. Katalog im Jovis-Verlag, Berlin, 208 Seiten, 28 Euro (gebunden 39,80 Euro). Das umfangreiche Begleitprogramm bietet unter anderem Rundgänge zu Kraemer-Bauten. Mehr Informationen unter: www.gesetzundfreiheit.de