Schätze vor der eigenen Haustür

KULTURLANDSCHAFT Ungewöhnliches Buch über Deutschland: Ralph Bollmann reist durch die Opern der Provinz und entdeckt die Vielfalt des Föderalismus

Provinzialismus ist eine Selffulfilling Prophecy: Unterstütz deinen lokalen Künstler!

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Vor der Musik kommt das Essen. Die Suche nach einem guten Restaurant vor dem Opernbesuch ist oft nicht einfach in kleinen und mittelgroßen deutschen Städten. In Detmold hat Ralph Bollmann Glück mit der Küche, wundert sich aber über den Mangel an Gästen, noch dazu an einem Feiertag. Und er bringt mit „fragendem Schweigen“ die Wirtin dazu, ihm von Detmolds Unglück zu erzählen, vom Projekt eines Museum für künstlerisch bemalte Drachen, mit dem sich die Stadt heftig verschuldete. Diese Geschichte, ergänzt um einige Recherchen über den Drachenmuseums-Initiatoren, schickt Ralph Bollmann seinem Besuch in der Detmolder Oper voraus, in Wagners „Walküre“, die seinem Buch „Walküre in Detmold – Eine Entdeckungsreise durch die deutsche Provinz“ den Titel gab.

Die Aufführung begeistert ihn, trotz eines für Wagner kleinen Orchesters von 60 Musikern, ja sie schließt ihm mit ihren kammermusikalischen Qualitäten das Werk womöglich mehr auf als opulentere Inszenierungen. So hat er in Detmold wieder etwas erfahren, was programmatisch wird auf seinen Reisen: den Masochismus der Provinz, die mit der narzisstischen Kränkung ihres Niedergangs oft so sehr beschäftigt ist, dass sie die Schätze vor ihrer Haustür übersieht und vernachlässigt. Und zu diesen Schätzen gehört, in über achtzig deutschen Städten, eine eigene Oper.

Ein schüchterner Liebhaber

Was bringt einen politischen Journalisten dazu, über 12 Jahre hinweg einige Urlaube in das Projekt zu investieren, von jeder Oper in Deutschland mindestens eine Inszenierung gesehen zu haben?

Die Antwort, die Ralph Bollmanns Buch gibt, ist eine mehrfache. Es ist nicht nur die Liebe zur Musik, die ihn treibt, sondern mehr noch die Leidenschaft des Historikers und die Neugierde des Journalisten. „Walküre in Detmold“ ist der Bericht einer mehrfachen Bildungsreise, in deren Verlauf sich der Autor vom schüchternen Liebhaber der Oper zu einem Kenner ihrer Literatur entwickelt. Vor allem aber entdeckt er in den Operhäusern, in ihrer Architektur, in ihrem Verhältnis zur Stadt, in der Struktur ihrer Trägerschaft immer wieder Zeugnisse für die Geschichte und das Selbstbild der Stadt.

Die Oper wird dabei nicht selten zum Schlüssel, sich Reibungspunkte zwischen Stadt- und Landespolitik zu erklären. Das gilt auch umgekehrt, findet er doch oft die Erklärung für die Haushaltsstruktur einer Oper in Verträgen, die Jahrzehnte zurückliegen. Dass Detmold noch immer eine Oper hat, geht auf einen Vertrag zurück, mit dem der ehemalige Freistaat Lippe 1947 seinem Beitritt zum Bundesland Nordrhein-Westfalen zustimmte und für die Aufgabe der Selbstständigkeit die Zusage des Erhalts der kulturellen Einrichtungen vom Land bekam.

Ralph Bollmann beschreibt sich selbst als einen Autor, den „alles interessiert, was mit deutscher Kleinstaaterei und Föderalismus zu tun hat“. Und so führten ihn seine ersten Reisen Ende der neunziger Jahre in die Residenzstädte von Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Dort zeugt schon das architektonische Programm der Operhäuser vom Wettstreit zwischen feudaler und bürgerlicher Macht im 18. und 19. Jahrhundert, vom Festhalten an autonomen Ansprüchen gegen den Drang zur Zentralität.

Der Operreisende gerät aber oft auch ins Schwärmen von den ostdeutschen Altstädten, ihrer erhaltenen Substanz und dem, was bis heute wieder daraus entwickelt wurde. Sein Buch ist auch aus dem Wissenshunger eines westdeutsch Sozialisierten auf das Land hinter der ehemaligen Grenze entstanden, die Opern sind dabei sein Kompass.

Die Kapitel seines Buches sind nach Bundesländern gegliedert und dabei erhält man mit der Erzählung über das Opernpublikum oft auch knackige Skizzen der Mentalität einer Stadt. Vergnüglich liest sich etwa der Vergleich zwischen Wiesbaden und Mainz, der Stadt des Regierungssitzes von Rheinland-Pfalz und der Hauptstadt des Bundeslandes. In Wiesbaden ist das Publikum von vornehmer Konventionalität, teuer gekleidet, es setzt beim Speisen wie in der Oper auf große Marken und bekannte Namen: „Komplexitätsreduktion“ nennt Bollmann das, so kann man nichts falsch machen. In Mainz wirken die Leute auf ihn entspannter und unprätentiös, und dass sie in Alltagskleidung in die Oper kommen und konzentriert eine minimalistische Inszenierung von Debussys „Pelléas et Mélisande“ verfolgen, spricht dafür, dass Kunst sie mehr als Repräsentation interessiert. Und wenn, wie in Mainz oder Dresden, eine Stadt auf Kultur als Kompensation für Machtverlust setzt, dann ist das in seinen Augen noch immer ein Gewinn für die Stadt.

„Walküre in Detmold“ ist auch ein ungewöhnliches Buch über Deutschland. Anders als reisende Literaten pflegt Ralph Bollmann keinen dissidenten Gestus im Blick auf die Provinz. Er ist immer wieder begeistert von dem, was er an sichtbarer Substanz der Geschichte entdeckt, auch wenn ihn oft die Verstaubtheit der historischen Museen erschreckt. Und dass Studenten und ein akademisch gebildetes Publikum oft eher in die nächste Großstadt fahren, als das heimische Stadttheater zu besuchen, wegen Verdacht des Provinzialismus, scheint ihm eine Selffulfilling Prophecy: Sein Buch wirbt für die lokalen Unternehmen, ihre Qualität ist auch abhängig von der Nachfrage, support your local artist.

Föderalismus heucheln

Wie ein Land es mit seinen Opern hält, wird ihm aber auch zum Mittel, politische Widersprüche nachzuweisen. „Ausgerechnet Bayern, das nach außen stets den Föderalismus predigt, wird im Inneren so zentralistisch regiert wie kein anderes Bundesland“, kann er so zum Beispiel folgern, nachdem er sich den Fluss von Steuergeldern an die Münchner Staatsoper und die Opern in Hof, Coburg, Würzburg, Nürnberg, Augsburg, Regensburg und Passau angesehen hat.

„Walküre in Detmold“ setzt nicht nur, wie der Autor sich vorgenommen hat, der Oper ein Denkmal. Auch Dramaturgen und Theaterwissenschaftler werden dieses Buch lieben, denn endlich beschreibt jemand die Reichhaltigkeit der deutschen Theaterlandschaft in einer vernünftigen Sprache, weder akademisch noch von den Euphorismen des Marketingdeutsch belastet. Aber auch vielen Politikern wünschte man, sich mit solch einem Reiseprojekt die Augen für das Land zu öffnen.

Als Theaterredakteurin in der taz habe ich dieses Buch auch mit einer Prise Eifersucht gelesen. Ralph Bollmann war 13 Jahre Politikredakteur der taz. Über sein Opernprojekt und was ihn antreibt, wollte er aber für die Kulturseiten eher nicht schreiben. Möglicherweise beruhte das auf seiner großen Skepsis gegenüber dem feuilletonistischen Blick auf die Provinz, den er von Vorurteilen behaftet findet und unfähig, der Qualität dieser Vielfalt gerecht zu werden.

■  Ralph Bollmann: „Walküre in Detmold – Eine Entdeckungsreise durch die deutsche Provinz“. Klett-Cotta, Stuttgart 2011. 240 Seiten, 19,95 Euro