Ein unvollendetes Projekt

Seit 20 Jahren leitet Achim Tischer das Kultur-Ensemble im Bremer Krankenhaus Ost: Der Tabu-Ort Psychiatrie ist zum Stadtteil-Zentrum und zur Plattform für interdisziplinäre Diskurse geworden

VON BENNO SCHIRRMEISTER

Es gibt einen Stadtteil in Bremen, der heißt Osterholz. Dessen Zentrum – und wenn es nicht so pathetisch klänge, müsste man sagen: dessen schlagendes Herz – ist ein Krankenhaus. Das liegt an der Psychiatriegeschichte, zum Teil auch an den Siedlungsbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts, – und an Achim Tischer.

Nein, natürlich nicht allein, natürlich ist das ungerecht: Es müssten auch andere Namen fallen, der von Stephan Uhlig zum Beispiel und der von Gerda Engelbracht, die, als sie noch zum Team gehörte, die historische Forschungen übernommen hat, Susanne Hinrichs wäre zu nennen, die Kuratorin, und eigentlich auch Stefanie Beckröge, die macht die Öffentlichkeitsarbeit, und ist auch von Anfang an dabei – seit 20 Jahren, rundes Jubiläum, am Wochenende wird gefeiert. Aber Tischer ist der Chef der Abteilung, obwohl er kein Arzt ist und eher Grau trägt, als Weiß und auch überhaupt nicht so auftritt, als hielte er sich für einen Halbgott.

Tischers Abteilung ist bundesweit einzigartig, heißt schlicht „Kultur“ und ist gleichberechtigt mit den Behandlungszentren, die das Krankenhaus Bremen Ost (KBO) so hat – Die Thoraxchirurgie etwa, oder das Institut für klinische Neuropathologie und das Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie. Gegründet wurde es 1904 als „St.-Jürgen-Asyl für Geistes- und Nervenkranke“, später hieß es „Städtische Nervenklinik“. Seit 1977 ist das KBO ein Zentralkrankenhaus, das zweitgrößte Bremens und eben auch, das war damals etwas ganz Neues, für körperliche Krankheiten zuständig – Ausdruck der 1972 begonnenen Psychiatriereform, deren Hauptziel es war, die Gleichberechtigung von körperlich und seelisch Kranken herzustellen.

Dass zehn Jahre später Tischer und sein Team am Krankenhaus zunächst für Einzelprojekte engagiert werden, ist eine Folge derselben gesellschaftlich-politischen Bewegung: Die Öffnung der Psychiatrie, das Abbauen von Hemmschwellen – das war das große Thema. Und ist es noch: „Unsere Kulturarbeit“, sagt Tischer, „ist nicht therapeutisch.“ Fast 52 Jahre, grau-melierte Haare, kleine Brille, schmal, lang gewachsen.

Dass er einmal Schauspieler war, nein das hätte man nicht gedacht. Angenehm moduliert die Stimme, das ist wahr, er artikuliert sehr präzise – aber das fällt erst nach dem Gespräch auf, das anstrengend ist: Show? Markige Worte? Nicht mit ihm: Er stellt Konzepte vor, er erklärt, wie der Trialog zwischen Psychiatrie-Erfahrenen, Ärzten und Schülergruppen funktioniert: Aufklären, Vorurteile überwinden, Begegnungen gestalten – die Psychiatriereform ist ein unvollendetes Projekt. Dramatisierungen? Das überlässt Tischer anderen: Die Kulturabteilung „ist relativ gesichert“, sagt er, durch „zwei Stellen, die man nicht einfach so wegmachen kann.“

Das ist nicht selbstverständlich, denn einerseits leiden die kommunalen Krankenhäuser ohnehin unter dem Spardruck der öffentlichen Kassen – und Privatisierungsplänen. Andererseits ist das KBO zusätzlich in eine finanziell brenzlige Situation manövriert worden: Zuletzt war es wegen des Bremer Klinikskandals in den Schlagzeilen, durch die Machenschaften seines Ex-Geschäftsführers – etwa dessen Bestellung von Medientischchen im Wert von fünf Millionen Euro. Ein schriller Betrag. Tischer lächelt gequält, wenn die Sprache darauf kommt: „Natürlich ist es genau dieses Geld, das uns jetzt fehlt.“

Zum Beispiel für die Dauerausstellung des Krankenhausmuseums: Natürlich sind die Fakten nicht veraltet, natürlich ist die Geschichte von der Gründung des Hauses, vom Bremer Anteil an der Euthanasie Seelisch-Behinderter bis zur Nachkriegszeit noch immer interessant. Aber die Stellwände, die sie nüchtern erzählen, sind nicht mehr ganz das, was man sich unter einer zeitgemäßen Präsentation vorstellt. Und man würde gerne über die rein-historische Fragestellung hinausgehen, möchte in einem Erfahrungsraum klar machen, was Psychiatrie heute bedeutet und wie sich Gesundheitskonzepte kulturell unterscheiden.

Das Konzept für die neue Dauerausstellung steht, es ist stringent, der Berliner Künstler Via Lewandowsky hat es vor zwei Jahren entworfen – keine 200.000 Euro würde das kosten. Das Geld ist schon länger beantragt, oft beinahe zugesagt, dann doch nicht gekommen: „Wir müssen uns dann meistens doch hinten anstellen“, sagt Tischer, und obwohl das bitter ist, klingt es nur nach einer sachlichen Feststellung.

Gebaut worden ist das „St-Jürgen-Asyl“ einst als eine Art Kolonie, auf dem platten Land, östlich von Bremen. Man hat es angelegt als Ensemble von Landvillen, Pavillons, Werkstätten, in einem weitläufigen Gelände mit Gärten und Feldern. „Für die damalige Zeit“, erläutert Gerda Engelbracht, die die Vergangenheit der Einrichtung erforscht hat, „war das eine Reformanlage.“ Allzu menschenfreundlich darf man es sich trotzdem nicht vorstellen: „Wer da landete“, notiert der von Psychiatrisierung bedrohte Worpsweder Maler Heinrich Vogeler 1918 über den Ruf der Anstalt, „war fürs erste ein toter Mann, ohne Verbindung mit der Außenwelt.“

Die Zäune sind verschwunden, die Stadt hat sich längst bis hierher ausgebreitet. Spaziergänger, Pfleger, Radler, Ärzte und Patienten teilen sich den Park. Und die Besucher des Kulturensembles: Es besteht aus der „Galerie im Park“, in der das „Kreativbüro“, ein Show-Room für Wechselausstellungen und, im ersten Stock, das Krankenhausmuseum untergebracht sind. Und aus dem Nachfolgebau des 2001 abgebrannten Gemeinschaftshauses. Im Originalgebäude fanden früher Weihnachtsfeiern und Auftritte der anstaltseigenen Trachtengruppe statt.

Heute ist das „Haus im Park“ ein Ort, an dem Barock-Musik, geisteswissenschaftliche Melancholie-Theorie und klinische Depressionsforschung aufeinander treffen. Ein Ort, wo sich Stars der Psychoanalyse wie Mario Erdheim, Musiker wie Konstantin Wecker und Juristen wie Lorenz Böllinger beim Thema „Rausch, Sucht und Lust“ begegnet sind. Und, wo Bremen-Osterholz sein Stadtteilfest austrägt: Der Tabu-Ort Psychiatrie, das gesellige Bratwurst-Bier-Event mit Hopsburg für die Kleinen und der intellektuelle Diskurs – das wäre vor 20 Jahren eine undenkbare Kombination gewesen. Und eine Ausnahme ist sie noch immer. In Osterholz wird sie gelebt.

Festprogramm: 8.7. 11-18 Uhr