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Ein tragbarer Grabstein

COLLAGE Peggy Parnass hat ihren von den Nazis ermordeten Eltern mit einem neu aufgelegten Buch ein Denkmal gesetzt

VON PETRA SCHELLEN

„Wem man glauben soll, der braucht Beweise.“ Das ist die bittere Erfahrung, die die vier-, fünfjährige Jüdin Peggy Parnass 1939 in Stockholm machte. Ihre Eltern, die später im Vernichtungslager Treblinka ermordet wurden, hatten Peggy und ihren Bruder per Kindertransport nach Stockholm geschickt, um sie vor den Nazis zu retten.

In Schweden versuchte Peggy dann vergeblich, ihren Klassenkameraden zu erzählen, dass die Nazis in Deutschland Juden deportierten und ermordeten. Aber sie drang nicht durch. „Wie in einem Traum, in dem man schreien will und keinen Ton rausbringt.“

Zu lesen ist der Satz in einem kleinen, feinen Buch, das erstmals 2012 erschien, auf der Stelle vergriffen war und jetzt neu aufgelegt wurde. „Kindheit – Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete“ heißt es.

Es ist ein Mix aus collagenartigen Erinnerungspartikeln der preisgekrönten Hamburger Kolumnistin und Gerichtsreporterin Peggy Parnass und Farbholzschnitten der mit ihr befreundeten Künstlerin Tita do Rego Silva, sodass man das Ganze für ein Kinderbuch halten könnte. Das ist es auch, allerdings in einem tiefer gehenden Sinne: Es ist die Hommage einer Tochter an die Eltern Hertha und Simon Pudl Parnass. „Mutti und Pudl haben weder Grab noch Grabstein“, schreibt Parnass im Nachwort. „Nur drei Stolpersteine vor ihrer Wohnung. Aber jetzt dieses wunderbare Buch zu ihren Ehren.“

Ein gelungenes Wagnis

Ein solch emotionaler Zugang ist ein Wagnis, und es gelingt. Es ist schwierig, von einer traumatischen Kindheit zu berichten, ohne sentimental zu werden und dem Leser mehr Mitempfinden abzunötigen, als er aufbringen mag – zumal sich das Buch ja auch an Jugendliche richtet. Andererseits hört man von Pädagogen, dass Schüler emotional gefärbte Erzählungen über individuelle Schicksale mehr schätzen als die beflissen distanzierte Kühle, um die sich deutsche KZ-Gedenkstätten oft mühen.

Zugleich ist das Buch ein historisches Dokument, das Erinnerung um den Aspekt „Kunst“ bereichert und keinen wissenschaftlichen Anspruch hegt. Im Gegenteil: Die Autorin spielt unbekümmert mit der Asymmetrie von Erinnerungsintensität und -abfolge, folgt ihr wie einem verschlungenen Pfad im Wald. Zugleich illustriert das Büchlein die Durchdringung von Politischem und Privatem während des Dritten Reichs. Dabei erzählt Parnass zwar betont subjektiv, bleibt aber differenziert: Ja, sie liebt ihre Mutter, all ihre Träume kreisen um die Mutter, die Parnass als Vierjährige zum letzten Mal sah – und was haben sie und ihr blonder Bruder sich gefürchtet, als sie mit der schwarzgelockten jüdischen Mutter trotz Nazi-Verbots ins Schwimmbad gingen! Andererseits: Wäre ihre Mutter doch so stark gewesen, dass sie Peggy im Kinderheim vor Sanktionen hätte beschützen können! Aber vielleicht wäre eine starke Mutter auch nicht so lieb gewesen, überlegt sie dann.

Und dann der Vater: der Spieler und Zauberer, der manchmal nächtelang wegblieb. Auch er ein nicht genügend gekanntes, zu früh verschwundenes Elternteil, und es ist ein Mix aus Beiläufigkeit und Ungesagtem, der Parnass’ Traumata erahnen lässt. In einer Turnhalle, in der die Nazis die verhaftete Familie Parnass abgeladen hatten, sagte der Vater irgendwann zu Peggy, „dass ich zu einem fremden Mann Papa sagen sollte, mit dem ganz natürlich rausgehen, fröhlich aussehen und mich nicht wieder umdrehen“. Sie tat es, und dass sie sich nicht mehr umdrehte, bereut sie bis heute. Sie sah den Vater nie wieder.

Platz für Ambivalenz

Aber das Buch erwähnt auch die Ambivalenz der Nazi-Handlanger: Nach jener Verhaftung wurden die Juden auf Viehwagen durch die Stadt gefahren, von Wache zu Wache, und Peggy sieht: „Ein Polizist weinte, Kopf auf’m Tisch.“ Das sagt sie nebenbei, nur ein Flash, illustrierend ein Quäntchen Menschlichkeit und Machtlosigkeit innerhalb des NS-Systems.

Verbitterung ist nicht der Tenor dieses Buchs. Auch nicht bei den Passagen über Stockholm, wo Peggy zwölf Pflegefamilien erlebte, schwarzpädagogisch-strenge Erzieherinnen traf und hasste. Aber dieser Hass ist Vergangenheit, er wird erzählt aus der Distanz der Erwachsenen, die die Struktur hinter all dem durchschaut. Und dazu alle paar Seiten ein Holzschnitt – mal orange-munter für Mutter, Vater, Kinder, mal düster-blau für Nazi-Chargen.

Ende des Zweiten Weltkriegs kamen Peggy und ihr Bruder nach London zu einem Onkel. Der Bruder blieb und wurde Engländer, Peggy nahm in Stockholm die schwedische Staatsbürgerschaft an. Und sie hat sich durchbeißen müssen, schon als 14-Jährige eigenes Geld verdient, gelehrt, Filmkritiken geschrieben, in vier Ländern studiert, Gerichtsreportagen für die linke Zeitschrift „Konkret“ geschrieben. Hat viele Preise eingeheimst, in der Gegenwart nach Gerechtigkeit gesucht, die es in ihrer Vergangenheit nicht gab.

Im juristischen Sinne gefunden hat sie sie nicht, auch die Traumata sind noch da. Aber mit diesem Buch hat Parnass ihren Eltern immerhin einen kleinen, tragbaren Grabstein gesetzt.

Peggy Parnass, Tita do Rego Silva: Kindheit – Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete. Fischer Verlag, 75 S., 14,99 Euro

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