KURZER TRAUM: Toller Mantel
Ich war auf der Suche nach einem Geschäft in Mitte, das vor wenigen Tagen in der Großen Hamburger Straße eröffnet hat und 40er- und 50er-Jahre-Klamotten verkauft. Ich muss sparen, aber weil Gucken nichts kostet, machte ich mich auf den Weg. Ich spazierte durch die Gegend, die Sonne schien endlich wieder, über dem Arm trug ich meinen Lieblingssommermantel – aus den 50ern, mit violetten Rosen. Ich ließ mich treiben und achtete nicht auf die Hausnummern. Plötzlich sprach mich eine Frau an, die auf dem Gehweg vor einem Kleidergeschäft auf einem Stuhl saß. Mir fielen sofort die tollen, großen Ketten auf, die sie um den Hals trug. „Woah“, sagte sie, „toller Mantel.“ „Woah“, sagte ich, „tolle Ketten.“
So lernte ich Rianna kennen, eine Griechin, die in der Großen Hamburger Straße einen entzückenden Second-Hand-Laden betreibt, der mich das Ziel meiner Suche vergessen ließ. Kleider, Mäntel, Blusen und Kostüme aus den 40ern, 50ern, 60ern, von großen Namen wie Dior und mir unbekannten Marken. Nachdem ich ihr gestanden hatte, dass ich nur gucken will, ging sie mit mir ihre Schätze durch und erzählte Geschichten dazu. Wir verstanden uns prächtig. Zielsicher griff ich nach einem knöchellangen Mantel aus Seide. Er war von Hermes, aus den 50ern, außen und innen mit unglaublich schönen Herbstblättern bedruckt. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Dieser Mantel war kein Mantel. Das war ein Traum! Leider ein kurzer. Er kostete 1.200 Euro. Die Minuten, die ich mit ihm vor dem Spiegel verbrachte, werde ich nie vergessen.
Eine Stunde später verließ ich das Geschäft mit einer großen Papiertüte. Darin war ein herzallerliebstes Sommerkleid aus den 40ern, mit roten Blumen und kecken blauen Streifen, das wie für mich gemacht ist. Weil auch sie der Meinung war, überließ sie es mir für 50 statt für 90 Euro. Danke, Rianna, ich komme wieder! Pass gut auf meinen Hermes-Mantel auf. BARBARA BOLLWAHN
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