Der eiserne Maoist

KOMMUNISMUS Die Erkundung eines bizarren Denkmals: Alain Badiou, dessen Schrift „Die kommunistische Hypothese“ bei Merve neu auf Deutsch erscheint, ist einer der letzten Meisterdenker der einstigen „Neuen Linken“

Badious bewusst demagogische Sprache bildet das ultimative kulturelle Kapital im Neoliberalismus

VON JOHANNES THUMFART

Alain Badious Ruhm kam spät. Laut Google Trends wird erst seit 2005 verstärkt nach dem Namen des 74-Jährigen gesucht, davor war er außerhalb Frankreichs praktisch ein Unbekannter. Zusammen mit Slavoj Zizek gilt der kantige Philosoph derzeit als der wichtigste Theoretiker der radikalen Linken. Bei seinen Auftritten in Galerien in New York, London, Paris und Berlin wird er vom Hipster-Publikum gefeiert. Im Zuge einer im letzten Jahr begonnenen Übersetzungswelle veröffentlichte der Merve Verlag nun sein vielleicht deutlichstes politisches Werk, „Die kommunistische Hypothese“.

Darin entwirft der eiserne Maoist eine Philosophie der revolutionären Praxis und bemüht sich, den Begriff des Kommunismus für die Jetztzeit fruchtbar zu machen. Obwohl der Band für den vierzigsten Jahrestag von 1968 gedacht war, scheint er gerade jetzt aktuell, da die Aktionen der „Empörten“ von sich reden machen und die sozialen Unterschiede auch in der westlichen Welt wachsen. Ähnlich wie bei seinem Vorbild Mao nimmt der Personenkult um den Meisterdenker aber bisweilen bizarre Züge an.

Gerade im Vergleich mit seinen Vorgängern im Pantheon der kritischen Theorie – Deleuze, Foucault, Derrida – zeichnet sich Badious Arbeit durch Strenge, Kompromisslosigkeit und eine fast populistisch anmutende Gradlinigkeit aus. Mit Hang zur Unzweideutigkeit schreibt er auch in der „kommunistischen Hypothese“: „Wir müssen noch ‚Volk‘, ‚Arbeiter‘, ‚Abschaffung des Privateigentums‘ etc. sagen können, ohne in unseren eigenen Augen als altmodisch dazustehen.“

Dabei gilt sein Interesse auch der im Zusammenhang der postmodernen Theorie zumeist verpönten direkten politischen Aktion: „Ein Flugblatt auf dem Markt zu verteilen, heißt zugleich, die Bühne der Geschichte zu betreten“, schreibt Badiou.

Ernsthaftigkeit, Pathos und Dogmentreue – das ist, so unglaublich es klingt, die Erfolgsformel des Modedenkers. Seine Gradlinigkeit ist erfrischend in einer Zeit, in der ostentative Lockerheit (Oberarmgeweih der First Lady, Guttenberg als DJ) gerade in strukturkonservativen Kreisen zu einem Muss geworden ist. Er formuliert damit den Bruch mit jener postmodernen Beliebigkeit, die die Poplinke in das politische Vakuum von architektonischen Bildbänden, Landkommunen und kulturwissenschaftlichen Seminaren getrieben hat. Es ist paradox, aber auch logisch, dass das gerade für oberflächlich interessierte Hipster attraktiv ist.

Dogmentreue als heißer Scheiß

Seine bewusst demagogische Sprache bildet sozusagen das ultimative kulturelle Kapital im Neoliberalismus – je deutlicher sie Phänomene wie „Ausbeutung“ und „Klassenkampf“ beim Namen nennt, desto sicherer ist sie vor der Nachahmung durch den Mainstream. Der Katholizismus-Hype der letzten Jahre hat es vorgemacht: Dogmentreue ist der ganz heiße Scheiß in einer Welt, in der praktisch alles verwertbar geworden ist, sie ist sozusagen das letzte schlechthin unverkäufliche Gut, eine Res extra commercium. Würde die Linke das ebenso gut verstehen wie Badiou und sich nicht dafür entschuldigen, im Gegensatz zu allen anderen Parteien über eine politische Utopie zu verfügen, sie könnte locker eine Volkspartei werden.

Aber wie funktioniert Badious Kommunismus eigentlich? Zuallererst bedeutet Kommunismus hier, ebenso wie bei Marx, schlicht die Abschaffung des Privateigentums, was als eine Überschreitung „der Grenzen des Egoismus, der Konkurrenz, der Endlichkeit“ verstanden wird. Badiou spricht von einer „kommunistischen Hypothese“, weil ihm klar ist, dass die Verwirklichung dieses Projekts bisher immer gescheitert ist. Wie in der Mathematik sei aber „das Scheitern, solange man die Hypothese nicht aufgibt, nur die Geschichte ihres Beweises“. Die kommunistische Hypothese stecke daher heute einen „Raum des möglichen Scheiterns“ ab.

Darüber hinaus versteht er die kommunistische Idee vor allem als ein epistemisches Projekt. Es gehe darum, zu erkennen, dass die parlamentarische Demokratie und der Kapitalismus nicht notwendig, sondern Möglichkeiten unter vielen seien. Der Kommunismus sei eine wissenschaftliche „Politik der Wahrheit“ nach Platon, ihm gegenüber stehe die unausgesprochene Maxime der Gegenwart: „Lebe ohne eine Idee“. In Wirklichkeit bedeute diese nur, mit einer einzigen, unhinterfragten Idee, derjenigen des Kapitalismus, zu leben.

Dem in der westlichen Welt vorherrschenden System sei der Kommunismus vor allem deswegen überlegen, weil er komplexere Interaktionen ermögliche, als die durch unterschiedliche Besitzverhältnisse eingeschränkten. Badiou erinnert sich etwa an die Bewegungen seiner aktiven politischen Phase als „die gemeinsame Suche einiger Tausend Studenten, Gymnasiasten, Arbeiter, Vorstadtfrauen und aus Afrika kommenden Proletarier nach einer anderen Politik, die es nicht akzeptiert, jeden an seinem Platz zu belassen.“

Das bedeute „vollkommen neue Wege, unmögliche Begegnungen, Versammlungen von Leuten, die normalerweise nicht miteinander reden“. In der Tradition des Maoismus stützt sich Badious Idee des Kommunismus wesentlich auf die Spontaneität der Massen, ebendeswegen hütet er sich davor, den Begriff genau zu definieren.

„Die gerechten Ideen“, paraphrasiert er den großen Vorsitzenden, „kommen aus der Praxis.“ So radikal ist das eigentlich nicht, es klingt sehr nach den vernünftigen, momentan lauter werdenden Rufen nach mehr Partizipation der Bürger, sozialer Gleichheit und direkter Demokratie. Letztendlich ist Badiou nicht weit weg von dem, was etwa Laclau und Mouffe als „radikale Demokratie“ konzipierten: die Ausweitung liberal-demokratischer Ideen hin zu einer pluralen, direkten Demokratie, die die Norm der Gleichheit auch auf Besitzverhältnisse anwendet.

Auf eine Elite setzen

Der problematische Unterschied zwischen ihm und seinen Vorgängern in der postmodernen Linken besteht darin, dass er dieses Projekt explizit auf eine Elite stützt. Er bemerkt, dass revolutionäre Ereignisse, etwa diejenigen von 1968, nie von einer Mehrheit, sondern von einer Minderheit getragen würden. Im Mehrheitswahlrecht sieht er daher „ein Dispositiv zur Unterdrückung von Bewegungen, Neuheiten und Brüchen“. Für die politischen Aktionen der revolutionären Minderheit sei dagegen der oft geschmähte Personenkult fruchtbar.

Eigennamen wie Spartakus, Thomas Münzer, Robespierre, Marx, Lenin, Mao hätten die Fähigkeit, einen gemeinsamen Nenner für die „anonyme Handlung von Millionen Aktivisten, Aufständischen, Kämpfenden“ zu bieten, „die als solche irrepräsentabel“ seien. Auch vor einem Lob Stalins schreckt er dabei nicht zurück: „Die Verurteilung des Personenkults Stalins durch Chruschtschow war unangebracht und annoncierte, unter dem Deckmantel der Demokratie, den Niedergang der Idee des Kommunismus.“

Ähnliches hört man auch immer wieder von Zizek, der gern mit dem Stalinismus flirtet. Wie bei dem slowenischen „Elvis der Theorie“ beinhaltet das Lob des Personenkults auch bei Badiou eine präzise Selbstbeschreibung. Man hört selten kritische Gegenfragen, wenn er spricht, der während der Sechzigerjahre noch selbst die Vorlesungen von Deleuze stürmte, weil sie ihm zu wenig proletarisch waren.

So war es auch bei seinem letzten Vortrag im Roten Salon in der Berliner Volksbühne: Sein Zeigefinger bleibt beim Dozieren fast immer in der Luft. Nur manchmal wird er von gefälligen Anmerkungen seiner Günstlinge unterbrochen. Väterlich lobt er, man habe die „Subtilitäten“ seiner Metaphysik – mit Betonung auf dem Possessivpronomen – verstanden. Dabei spricht er vor allem von der Mathematik, seiner eigentlichen Leidenschaft. Den Kommunismus sieht er lediglich als politische Umsetzung mathematischer Theorien, die er nun als Nichtmathematiker vor Nichtmathematikern erläutert.

Falsifizierbar ist das in diesem Zusammenhang nicht, möglicherweise handelt es sich um eine Weiterführung des Projekts der Pataphysik, das der surrealistische Schriftsteller Alfred Jarry erfand. Es ist wahrscheinlich, dass Badiou hier stellenweise Unsinn erzählt, womit er lediglich aufgrund des Hypes um seine Person durchkommt. Die Errungenschaften des herrschaftsfreien Diskurses – vielleicht die wichtigsten von 1968 – sind fern. Von der Spontaneität der Massen, die sich derzeit tatsächlich in den Straßen von Madrid und Athen zeigt, ist hier keine Spur.

Das vorwiegend unter dreißig Jahre alte Publikum amüsiert sich dennoch königlich. Schließlich sieht man so viel museale Talarmentalität im real existierenden akademischen Betrieb selten. Ob unfreiwillig oder kalkuliert: Auf seine sperrige Art ist Badiou witzig. Dass dies gerade das bourgeoise Feuilleton erleichtern dürfte, ist für sein Projekt fatal.

■  Alain Badiou: „Die kommunistische Hypothese“. Aus dem Französischen von Frank Ruda. Merve Verlag, Berlin 2011, 180 Seiten, 18 Euro