„Die meisten kommen zu spät“

Der Pneumologe Christian Witt bestätigt den Zusammenhang zwischen sozialen Verhältnissen und Krebsrisiko. Über 80 Prozent der Krebsfälle seien auf das Rauchen zurückzuführen. Deshalb lautet seine Forderung: Mehr Prävention

CHRISTIAN WITT, Professor und Bereichsleiter der Abteilung Pneumologie (Lungenheilkunde) an der Universitätsklinik Charité.

taz: Herr Witt, was sind aus Ihrer Sicht die zentralen Erkenntnisse aus dem Krebsatlas 2002–2004?

Christian Witt: Dass wir erstmals eine relativ verlässliche Beschreibung der Häufigkeit und Verteilung der Krebserkrankungen innerhalb der Stadt haben. Man kann den Krebs nur sinnvoll bekämpfen, wenn man weiß, wo der Feind steht. Der Bericht zeigt, dass die Situation dramatischer ist als erwartet.

Ergeben sich denn neue Erkenntnisse aus der jüngsten Studie?

Nun, ich bin ja schon lang im Geschäft, aber das Ansteigen der Zahl der Krebsfälle ist auffällig. Auch die Auswertung in Bezug auf die Stadtbezirke ist sehr interessant. Die Krankheit hat erwiesenermaßen auch soziale Faktoren. Das ist Fakt. Wir wissen ja im Grunde, dass gerade der Lungenkrebs eine Armeleutekrankheit ist.

Hat das etwas mit Behandlungsmöglichkeiten zu tun?

Nein, überhaupt nicht.

Woran liegt es dann, dass zum Beispiel das Rollbergviertel, ein sozial schwacher Kiez in Neukölln, ein extrem hohes Krebsrisiko hat?

Vergleichbar mit den Tuberkuloseerkrankungen früher, sind schwierige soziale Verhältnisse häufig assoziiert mit Krebs. Es gibt ja eindeutige Risikogruppen, zum Beispiel die starken Raucher. Über 80 Prozent der Krebsfälle sind auf das Rauchen zurückzuführen. Der Mann auf der Straße, wie man so schön sagt, der raucht eben stark und hat dadurch ein höheres Krebsrisiko: Von den Akademikern rauchen etwa 20 Prozent, bei den Ungelernten sind es aber über 60 Prozent. Es liegt also nicht daran, dass die ärmeren Kieze schlechtere Luft haben. Da wird einfach mehr geraucht.

Wie geht man damit um?

Wir haben die verdammte Pflicht, alles auszuschöpfen, was möglich ist. Das Wichtigste ist die rechtzeitige Diagnose – und das ist die große Krux dabei. Bei drei Vierteln der Kranken, die zu uns kommen, haben wir es mit fortgeschrittenen Tumoren zu tun. Da finden wir keinen richtigen Ansatz mehr. Wir können nicht einfach operieren und weg damit. Uns bleiben nur chemotherapeutische Maßnahmen und die Strahlentherapie.

Woran liegt das?

Anders als bei Krebsarten wie Brust- oder Prostatakrebs gibt es für die Lungen keine Vorsorgeuntersuchungen. Die alarmierenden Zahlen erfordern aber, dass wir ein Früherkennungssystem auflegen. Und natürlich müssen wir mehr über Prävention machen. Man muss den Leuten die Zusammenhänge von Rauchen und Krebs erklären.

Aber jeder Raucher weiß doch, dass sein Krebsrisiko durch den Zigarettenkonsum steigt.

Ja, er weiß es, aber die Sucht überdeckt es. Kognitiv ist das der blanke Selbstmord. Die Sucht geht über alles hinweg, über jedes rationale Argument. Das hat keinen Sinn. Gerade das Nikotin ist extrem süchtig machend – zum Teil wird es höher eingestuft als Heroin. Man kann es nur über Aufklärung und Verbote versuchen. Das Wichtigste ist aber effiziente Früherkennung, damit man den Krebs frühzeitig diagnostizieren und ordentlich behandeln kann.

INTERVIEW: CATALIN GAGIU