SOMMER DER LIEBE, SOMMER DES REGENS: Klimawechsel haben wir uns anders vorgestellt
AUSGEHEN UND RUMSTEHEN
Es schüttet weiter. Wir sitzen in unserer neuen Lieblingskneipe, dem „Holz-Kohlen“, und schauen aus der blauen Luft hinaus auf die nasse Weserstraße. Irgendwie hatten wir uns das mit dem Klimawandel ganz anders vorgestellt. War nicht von langen, trockenen Sommern die Rede gewesen? Von mehr als zehn tropischen Nächten? Sollte nicht Holland dafür untergehen? Stattdessen geht jetzt Brandenburg unter. Berlin am Meer.
Der nette Barmann mit dem Moustache und der etwas rundlichen Figur lässt die letzte Portishead laufen. Und dann Nick Cave. Passt. Vergangene Woche war noch die letzte Amy Winehouse gelaufen und ich ins Erinnern geraten. An diesem Wochenende spielten ganz andere Lieder eine Rolle. Etwa „Love Hurts“, vorzugsweise in der Originalversion der Everly Brothers, oder, wenn modern, dann in der der kleinen, guten amerikanischen Mobius Band. „Love is like a cloud, holds a lot of rain“, heißt es da. Wie wahr. In dem Sinne erleben wir den Sommer der Liebe 2011.
Am Nebentisch sagt jemand: „Ich glaube nicht an Gefühle. Ich glaube an Entscheidungen.“ Auch ein interessanter Satz. Fast umgebracht haben mich am nächsten Tag, dem Samstag, drei, vier ganz andere Stücke. Zunächst „50 Ways to Leave Your Lover“ von Paul Simon. Auf YouTube ist davon eine Live-Fernsehstudioaufnahme von 1975 zu sehen, Steve Gadd am Schlagzeug, Paul Simon mit Pornoschnauzer und Dackelhaaren, der mit viel sagendem Blick seine Version einer gelungenen Verführung aus einer unglücklichen Beziehung heraus besingt. Und am rechten Bildrand chinesische Schriftzeichen.
Aufgenommen hat diese Zeile nicht nur Eminem, der in „50 Ways“ natürlich zwischen den hier als Refrain funktionierenden Paul-Simon-Sample ganz gehörig seine Exfreundin, diese Bitch, disst, sondern auch Stephen Merritt alias Magnetic Fields, der auf seinem legendären Dreifachalbum mit den „69 Lovesongs“ in dem Stück „I Can‘t Touch You Anymore“ auf Simon rekurriert: „You wanna tell me 50 ways you’ve left your lovers / you wanna tell me how you‘ve loved 200 others / you’re asking the wrong questions / you’re opening the wrong doors / I love you, I can’t touch you anymore.“ In einem anderen Titel behauptet er dann noch: „Love is like a bottle of gin“.
Ach ja. Diesmal führte der Blick aus dem Schaufenster des Cafés Ringo in der Sanderstraße hinaus. Und wieder Regen. Zum Ringo, das ich auch gar nicht so oft besuche, habe ich inzwischen eine Art Hassliebe entwickelt, die diesmal von einem neu mit Schablone an die Wand über der Theke gesprühten Satz weiter angefacht wird. „The demand for a luxury good does not depend on its price but only on the income of the customer.“ Was soll das heißen? Ist hier unverhohlenem Snobismus Tür und Tor geöffnet? Oder soll das eine versteckte Konsumkritik sein? Ich weiß es nicht. Die amerikanischen Hipster, die hier in der Ecke flirten, und der junge Mann, der sich Zeichnungen von Schaben mit hebräischen Schriftzeichen darunter anschaut, werden es wohl auch nicht wissen.
Die Bedienung ließ derweil das letzte annehmbare, aber schon tief mit den Lederstiefeln im Radioschmock der achtziger Jahre stehenden Roxy-Music-Album „Avalon“ laufen. „It was fun for a while“, heißt es da im Eröffnungsstück „More Than This“, das gleich zweimal lief. „There was no way of knowing/ Like a dream in the night/ Who can say where we’re going/ No care in the world/ Maybe I’m learning/ Why the sea on the tide/ Has no way of turning.“ War mal das Lieblingslied einer vergangenen Flamme. Und draußen regnet es weiter.
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