die wall ag hat wieder zugeschlagen: das neueste stadtmöbel am lustgarten verspricht eine zeitreise
: Abtauchen ins Märchenland

Als Kinder fanden wir sie toll: Es gab sie in Knallrot, sie waren aus Plastik und sahen aus wie kleine Science-Fiction-Ferngläser. Oben steckte man eine Scheibe rein, und wenn man dann durch das Fernglas guckte, sah man ein buntes 3-D-Bild. An der rechten Seite der fantastischen Apparatur war ein Hebel. Schob man den nach unten, kam das nächste Bild. So konnte man zum Beispiel das gesamte Schicksal von Rotkäppchen Stück für Stück nachvollziehen.

Timescope funktioniert ähnlich. Es steht im Lustgarten, an der Straße Unter den Linden. Auf einer schlanken Säule steht das fernglasähnliche Gerät. Man kann es im Bogen von rechts nach links schwenken, sodass man die touristischen Highlights auf der anderen Straßenseite im Blick hat. Von der Friedrichswerderschen Kirche bis zum rostigen Rest vom Palast der Republik. Aufgestellt wurde Timescope von der Wall AG, die Berlin auch großzügig mit Plakatwänden, Toiletten und Bus-Wartehäuschen bestreut.

Das Gerät präsentiert sich nicht knallrot, sondern im edelgrauen Stadtmöbellook – wie eigentlich alles, was Wall in der Stadt aufstellen lässt. Immerhin, einige Elemente sind neongrün umrandet: das Guckfenster etwa oder der Münzschlitz, in den man 50 Cent stecken muss, um das Gerät drei Minuten lang benutzen zu dürfen. Auch die Knöpfchen rechts oben sind grün. Sie haben die gleiche Funktion wie der Hebel bei den Kindergeräten aus den 70er-Jahren: Man kann mit ihnen weiterwandern in der Bilderreise. Und zwar in die Vergangenheit.

Wenn man das Timescope zur Wiese mit dem Schinkeldenkmal schwenkt und das Jahr 1974 anklickt, sieht man an der Stelle die weiße Rasterfassade des DDR-Außenministeriums – wenn auch nur in 2-D. Wer auf den dahinschmelzenden Palast der Republik zielt oder auf das Staatsratsgebäude oder auf den Schlossplatz und dann noch die Jahreszahl 1890 drückt, der sieht das Schloss und das Schloss und das Schloss.

Von 1890 bis heute kann man sechs Jahreszahlen anklicken. Schade allerdings, dass das Jahr 1448 nicht dabei ist. Dann könnte man sehen, wie die Bürger Berlins die Baugrube des Schlosses unter Wasser setzten – sie empfanden dessen Bau als Angriff auf ihre bürgerliche Freiheit. Aber die Zeitmaschine am Lustgarten ist noch nicht so ausgereift, als dass man derartig weit in die Vergangenheit reisen könnte. Vielleicht ist das bei den nächsten Timescopes anders: Die werden an und in der Zitadelle Spandau stehen.

Vorstandsvorsitzender Daniel Wall bezeichnete gestern bei der Einweihung das Gerät als Weltneuheit. Dabei hatten wir als Kinder eigentlich auch schon Timescopes. Bloß dass sie damals nicht Timescope hießen (wie hießen die Dinger damals eigentlich ganz offiziell?). Außerdem brauchte man damals nicht jedes Mal Geld einzuwerfen, wenn man mal wieder für drei Minuten abtauchen wollte, in die Märchenwelt der Vergangenheit. GIUSEPPE PITRONACI