MOBILE KUNST
: Vergilbte Fotos

Hinter dem Kopf hing ein Geweih, sodass er wie gehörnt aussah

Es war ein ungemütlicher Herbsttag, und ich wollte noch vor Einbruch der Dunkelheit zum Postamt am Frankfurter Tor. Als ich an der Kreuzung Simon Dach Straße/Frankfurter Allee an der roten Ampel stand, sah ich auf der anderen Straßenseite wenige Meter neben der Fahrbahn eine quadratische weiße Box. Väter und Mütter hoben ihre kleinen Kinder hoch, damit sie hineinschauen konnten. Andere blieben stehen und schauten zu oder machten Fotos. Als die Ampel auf Grün schaltete, näherte auch ich mich der Box. Kaum hatte ich die vierspurige Straße überquert, vernahm ich Musik. Oben auf der Box waren Lautsprecher und Bildschirme installiert, die das Innere nach außen transportierten. Man konnte aber auch durch schmale Öffnungen hineinschauen.

Der kleine Raum war einem Wohnzimmer nachempfunden, samt vergilbten Familienbildern und Topfpflanze. Weil bekanntermaßen Platz in der kleinsten Hütte ist, gab es einen Tisch, auf dem ein alter Schwarz-Weiß-Fernseher stand und zwei Stühle. Auf einem saß ein Mann mit Vollbart und sang zur Gitarre. Wenige Zentimeter hinter seinem Kopf hing ein Geweih, sodass er wie ein Gehörnter aussah. Ihm gegenüber saß eine Frau, die ihn auf einer Oboe begleitete.

Die Musik war schön und etwas melancholisch. Am besten gefiel mir die Liedzeile „It is what it is“. Immer wieder blieben Menschen stehen, schauten in die Box hinein. Drei junge Männer, die erst vorbeiliefen, als würden in Berlin an jeder Kreuzung solche Dinger stehen, kamen zurück und machten einige Fotos. Ich erfuhr von einem jungen Mann, der die Aktion filmte, dass es sich um eine mobile Kunstinstallation handelte, die vom Bezirksamt unterstützt wird, und dass die Musiker zu der Band Burning Hell gehören. Beschwingt lief ich im Dunkeln zur Post und schickte meine Briefe auf die Reise. It is what it is.

BARBARA BOLLWAHN