Multilingual, multisexuell, multigut

REPETITION Rock, mal dekonstruiert, mal rekonstruiert. Noise, mal britisch, mal teutonisch. Die aus Brighton gekommenen Electrelane spielten sich und das Publikum im Festsaal Kreuzberg in einen Rausch

Sie kratzt die Gitarre – und versetzt sich dabei ganz langsam in eine seriöse Ekstase

VON RENÉ HAMANN

Gewissermaßen hatten sie ein Heimspiel. Verity Susman ist schon vor einiger Zeit nach Berlin gezogen, genauer: nach Friedrichshain. Jetzt scheinen ihre Bandkolleginnen ihr gefolgt zu sein. Hinzu kommt, dass Berlin wahrscheinlich die größte Queer-Szene Europas besitzt und überhaupt zu einer Migrationsstadt geworden ist. Entsprechend multilingual und multisexuell ging es im Publikum des übervollen Festsaals Kreuzberg zu.

Es war voll, es war heiß, und Electrelane, ehemals aus Brighton, die sich 2007 nach ihrer vielleicht eingängigsten und besten Platte, „No Shouts, No Calls“, bis auf Weiteres von Bühnen und Studios verabschiedet hatten, waren wieder da. Sie wurden aufs Wärmste empfangen. Und, um es gleich zu sagen, sie spielten ein fabelhaftes gutes Konzert. Im Festsaal, der weder eine anständige Belüftung noch auch nur irgendwelche Deckenventilatoren besitzt, herrschten schon bei Antritt der Band saunaähnliche Verhältnisse, und besser wurde es nicht. Die wackeren Vivian Girls hatten die Vorband gegeben – zwar schlecht abgemischt, aber immer wieder mit bestechendem Mehrstimmengesang. Es wurde dann jedoch irgendwann egal. Man konnte einfach nicht mehr raus. Weil man keinen einzigen Ton verpassen wollte.

Electrelane spielten sich und das Publikum vom ersten Takt an in einen Rausch. Susman, ohne Zweifel die Leaderin hier, gab mal die Nico, mal die durchgeknallte Pianistin, die hinter ihren geliehenen Keyboards die Haare strömen ließ wie eine Unterwasserpflanze bei Sturmflut; Ros Murray am Bass spielte druckvoll und zog immer wieder wunderbar gegenläufige Bassmuster durch die Stücke; Emma Gaze, Gründungsmitglied wie Susman, gab ein stoisches Schlagzeug dazu, war bei den vielen Breaks, Rhythmusverschleppungen und Betonungen aber immer exakt wie eine Atomuhr. Und schließlich Mia Clarke, Gitarristin. Über sie später mehr.

Electrelane spielen ja so etwas Ähnliches wie Post Noise. Also Postrock mit lärmendem Anteil, immer wieder dekonstruktiv, immer wieder rekonstruktiv. Mal melodischer und in Richtung Stereolab, dann krautiger, dann wiederum englischer, und irgendwie hört man auch immer etwas Klassik oder Weltmusik heraus – durch alle Monotonie und Repetitionen. Auffällig war, dass Electrelane dieses Zerlegen von Rockmustern auf der Bühne zelebriert haben, ganz wie auf der vorletzten Platte „Axes“, von der sie auch die meisten Stücke spielten; von der neueren gab es hingegen nur wenig zu hören – darunter „To the East“, was die meisten vorn sogar mitsingen konnten. Dafür gab es zum Schluss eine Reihe wahnwitziger Coverversionen – von den Communards (ja, richtig, die CSD-Hymne) über Leonard Cohen bis zu Bruce Springsteen.

Electrelane klangen auch nie so voll, nie so vielschichtig wie jetzt, ausgerechnet live. Klingt es auf Tonträgern immer auch etwas gewollt schief, besonders der Gesang, saß an diesem Abend nicht nur jeder Ton, er machte auch immer Sinn.

Während Verity Susman einfach eine coole Sau mit unglaublichem Charisma ist, muss Gitarristin Mia Clarke über den Fleiß ins Spiel kommen. Aber die Beflissenheit, mit der sie in handelsüblichem Büroangestelltenlook die große Noisegitarre spielt, kratzt, bürstet, abtastet, dann wieder auf sie eindrischt – und dabei ganz, ganz langsam sich selbst in eine seriöse Ekstase versetzt, das war nicht minder sehenswert.