Reif für den Gruftie

PIRATENPARTEI Bruno Kramm hat schon vieles gemacht: Journalist, Musiker, Labelbetreiber, Publizist, Blogger. Jetzt soll der 47-Jährige als neuer Landeschef die Berliner Piraten vor dem Untergang retten. Er sagt: „Es mag sein, dass es die letzte Chance für die Partei ist“

■ Der eher linke Berliner Landesverband der Piraten liegt im Streit mit dem Bundesvorstand. Die Berliner kritisieren, dass sich die Bundespartei thematisch zu eng aufstelle und auf ihre Internet-Kernthemen konzentrieren will. Der Konflikt eskalierte, als der Bundesvorstand den Berliner Landeschef Christopher Lauer, der im Frühjahr eine Abspaltung des Landesverbands ins Gespräch gebracht hatte, des Amtes entheben lassen wollte. Der 30-jährige Lauer kam dem zuvor und verließ – nach nur einem halben Jahr im Amt – im September die Partei. Er ist aber weiterhin Mitglied der Piratenfraktion, wie auch Oliver Höffinghof und Simon Weiß, die ebenfalls aus der Partei ausgetreten sind.

■ Bei der Abgeordnetenhauswahl 2011 hatten die Piraten 8,9 Prozent der Stimmen erhalten und waren erstmals in ein deutsches Landesparlament eingezogen. In Umfragen liegen sie derzeit weit unter der 5-Prozent-Hürde.

VON JENS UTHOFF

Es ist nicht sonderlich schwer, Bruno Kramm zu erkennen: ein Typ mit schwarzem Hut, den er wohl nur zum Schlafen absetzt, dazu ein Pferdeschwanz und dieser auffällige Backenbart. Wobei die schlichte Bezeichnung „Backenbart“ einem dann fast schon herabwürdigend vorkommt, denkt man an all die anderen, teils lieblos frisierten Backenbärte dieser Welt; betrachtet man Kramms Gesichtshaar von der Seite aus nächster Nähe, sieht es aus wie ein formvollendet auf die Wange gepinseltes Z.

Dieser Typ mit dem Z auf der Wange und dem Hut ist ins taz-Café in der Rudi-Dutschke-Straße gekommen; er sitzt auf einem roten Hocker an den Tischen vor den Fenstern, an denen an diesem Abend Novembernieselregentröpfchen hinunterlaufen. Kramm hat nur Smartphone und einen Milchkaffee vor sich. Auffällig sind der durchdringende Blick, die blitzenden braunen Augen, wenn er von Themen spricht, die ihm wichtig sind.

„Die Runderneuerung der Piraten“ ist so ein Anliegen. Das verwundert nicht, wenn man weiß, welches Amt der ganz in Schwarz gekleidete Kramm vor gut zwei Wochen übernommen hat: Er ist neuer Vorsitzender des Landesverbandes der Berliner Piratenpartei. Auf dem Parteitag am 16. November votierten 65 Prozent für den 47-Jährigen, der sich zuletzt inhaltlich vor allem mit dem Widerstand gegen das Freihandelsabkommen TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) befasst hat.

Diesem Man in Black kommt die nicht ganz einfache Aufgabe zu, den ehemaligen Vorsitzenden Christopher Lauer zu ersetzen, der aus der Partei ausgetreten ist (aber noch für die Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus sitzt). Es ist der siebte personelle Wechsel auf dem Posten des Berliner Landesparteivorsitzenden innerhalb von vier Jahren, zudem noch in einer Phase, in der die Piraten in ihrer einstigen Hochburg Berlin auf drei Prozent abgestürzt sind. Erst wollten die Twitter-Gefechte kein Ende nehmen, dann folgten prominente Austritte: neben Lauer Anke Domscheit-Berg und Oliver Höfinghoff, der ehemalige Fraktionsvorsitzende. Die Partei gilt – wenn nicht als tot – so doch als Wachkomapatient.

Aber mit Themen wie Tod und Vergänglichkeit müsste er sich ja auskennen, könnte man witzeln: Kramm kommt aus der Wave-Gothic-Szene; der gebürtige Franke ist Sänger der in diesen Kreisen hochgeschätzten Gruppe „Das Ich“. Der Sound der Band: dämonisch, düster, nietzscheanisch; die Gruppe wurde mit dem Genre „Neue Deutsche Todeskunst“ assoziiert. Kramm betreibt zudem das Label Danse Macabre und bringt das Szenemagazin NEGAtief heraus. Überhaupt: Kramm, dem man die bayerische Herkunft nur ein ganz klein wenig anhört, hat eigentlich fast alles schon mal gemacht: Journalist, Musiker, Politiker, Publizist, Blogger.

Kann er der Partei auf der Suche nach Integrität helfen? „Ich glaube, ich wurde gewählt, weil die Leute wissen, dass ich ehrlich bin“, sagt Kramm, der in Bayern politischer Geschäftsführer der Piraten war. „Die wissen, dass ich nicht strategisch und taktisch abwiegele und in Parteiflügeln denke, sondern dafür einstehe, was ich denke und sage.“

Zumindest redet Kramm den Zustand der Partei nicht schön. „Es mag sein, dass es die letzte Chance für die Partei ist“, sagt er. „Auf Bundesebene machen es sich die Piraten gerade in einer 1-Prozent-Nische bequem – so wie eine digitale ÖDP. Tragisch ist das.“ Die Partei müsse sich an ihrem wichtigsten Standort – Berlin – reformieren, um dann andere Landesverbände mitzureißen. So, wie es nach der Wahl 2011 schon mal war. Kramm betont: „Wegen den Berliner Piraten bin ich damals eingetreten.“

Damals lebte er noch im Frankenwald mit seiner finnischen Frau und seiner heute fünfjährigen Tochter; erst vor kurzem zog die Kleinfamilie in die Nähe von Potsdam. Dass seine Tochter im Frankenwald aufwächst, wollte er nicht: „Sonst wird sie so ein Landei“, sagt er. Früher war der Mann aus der schwarzen Szene noch Mitglied der bayerischen Grünen.

Seine Jugend hatte er in Bayreuth verbracht. „Furchtbare Stadt“, sagt er. Nahe der Wagner-Stadt hat Kramm einst eine Hauskommune gegründet: „Wie die Warhol’sche Factory, nur mit Gothic-Background.“ Auch wenn die Arbeit seiner Frau am Ende ausschlaggebend für den Umzug an die Spree war, bezeichnet er die Hauptstadt als seine „politische Heimat“. Wenn er von Berlin spricht, klingt es, als rede er erst dann vom richtigen Leben. Hier muss es passieren. Wo sonst?

Blöd nur, dass man es seinen Piraten kaum mehr zutraut, als Protagonisten einer wie auch immer gearteten politischen Avantgarde in Erscheinung zu treten. Spricht man mit Kramm über die Probleme der Partei, antwortet er mit Aufbruchsrhetorik: „Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass man uns einiges verzeihen wird, wenn wir unser Profil wieder schärfen und zeigen, dass wir die emanzipative Kraft sind.“

Auf diese Weise könne man selbst das Milieu der Kreativen wieder zurückgewinnen, schlicht aufgrund gemeinsamer politischer Überzeugungen: „In Berlin waren die Piraten immer klar links.“ Vor seiner Wahl forderte er ein, die Partei müsse „urban, aufmüpfig, kreativ und selbstbestimmt“ daherkommen. „Ich will die Berliner gewinnen, die weltoffen sind und die Stadt und ihre Offenheit lieben.“ Der neu gewählte Vorstand kommt seinen Vorstellungen einer offenen Partei nahe: „Wir haben einen Vorstand in Fußballklubgröße jetzt, elf Leute, ein tolles Team. Durchgeknallte Künstler, Demokratiephilosophen und Typen wie ich kommen da zusammen, das ist genial.“ Elf Freunde sollt ihr sein, habe er bei der konstituierenden Sitzung gesagt.

Helfen könnte der Partei die Schwäche der anderen. Der Zustand der Berliner Grünen zum Beispiel. Heißt für Kramm auch: enger an die NGOs ranrücken. Für zivilgesellschaftliches Engagement stünden die Grünen schon lange nicht mehr wirklich ein. „Ich habe diesen linken, als Musiker auch eher klassisch zivilgesellschaftlichen Hintergrund. Das will ich nutzen.“ Sein Horrorszenario für 2016 sieht so aus: „Uns blüht ’ne rot-rot-grüne Koalition in Berlin, und in der Opposition säßen die CDU und die AfD – was wäre denn das bitte für’n Stillstand?“

Um diesen zu verhindern, um es mit den Piraten zu „wuppen“, ist sein Motto auch: Back to the roots. Er sagt: „Das traditionelle Modell der Partei hat versagt – und wir wollten doch anders sein.“ Stattdessen wurde man zur vielleicht hierarchischsten Partei in Deutschland, wie es Parteikollege Lauer jüngst ausdrückte, weil zwischen Vorstandsebene und Mitgliedern nicht viel war außer Twitter. Vom ursprünglichen Anspruch sei zu viel verloren gegangen.

Kramm kommt aus der Gothic-Szene: Der gebürtige Franke ist Sänger der in diesen Kreisen hochgeschätzten Gruppe „Das Ich“. Der Sound der Band: dämonisch, düster, nietzscheanisch

Demokratiephilosophisch klingt es manchmal, wenn Kramm über Inhalte spricht. Für das bedingungslose Grundeinkommen tritt er auch deshalb ein, weil er mit dem digitalen Zeitalter Arbeit und Freizeit neu definieren will. Die monatliche Pauschale verleite Menschen nicht etwa zu Untätigkeit, sondern ließe sie im Gegenteil selbstbestimmt leben. „Jeder ist ein Kreativer“, sagt er gern – Menschen könnten ihre Ideen zukünftig ohne finanzielle Zwänge verwirklichen.

Wenn Kramm über seine politische Agenda redet, fällt auch das Stichwort „Netzneutralität“. Diese gelte es, in Deutschland zu sichern: Es sei nicht hoch genug zu bewerten, dass Daten und Datenpakete im Netz gleich behandelt würden, egal von welchem Sender sie kämen, wer sie empfange und wie groß die Inhalte seien. Die im Netz entstandenen großen Monopole sieht Kramm als ebenso schwerwiegendes Problem wie das sichere Kommunizieren als Lehre aus Snowdens Enthüllungen. „Verschlüsselung ist ein Weg“, sagt er – zuerst müsse aber noch mehr Bewusstsein bei den Nutzern dafür entstehen, wie sehr der Einzelne durchleuchtet wird im Netz.

Die Fans hießen „Prolls“

Ins lockere Plaudern kommt Kramm, wenn er über die frühen Zeiten mit seinen ersten Bands – vor „Das Ich“ – redet. Im Elternhaus hatte er bereits Klavierspielen gelernt, sein Vater war klassischer Musiker und Mathematikprofessor. „Damals waren Punk, Wave und Gothic für mich die Rebellion gegen das bildungsbürgerliche Zuhause.“ Dann erzählt er, wie sie die Leute früher mit Freibier zu Konzerten gelockt haben („Wir hatten einen kleinen Fanclub, die nannten sich ‚die Prolls‘“), als sie durch Franken getourt seien. „Unsäglich“, sagt er und kichert.

Anfang der 90er Jahre folgten die ersten Demotapes mit „Das Ich“ – auf einer Kassettenkopierstraße mit 40 Tapedecks in Heimarbeit kopiert. Dann ging es schnell: Auf dem ersten De- mo war mit „Gottes Tod“ gleich ein Szenehit, sodass die Band schnell bekannt wurde. Beim Wave-Gothic-Treffen in Leipzig waren „Das Ich“ später Dauergast.

Er muss dann aber auch langsam mal los, sagt er nun. Der Milchkaffee ist alle, die Frau ruft an. Er habe ihr versprochen, dass er sie abholt. Am Schluss fällt ihm noch etwas ein. Die Geburt seiner Tochter sei es gewesen, die ihn politisch habe noch aktiver werden lassen. „Hört sich immer so kitschig an, aber da fängt man schon an, die Welt noch mal neu zu sehen.“ Dann geht er raus in den Nieselregen.