heute in bremen
: „Traumatische Erfahrungen“

Wissenschaftler, Ärzte und Betroffene diskutieren über Intersexualität

taz: Herr de Silva, Sie haben sich mit medizinischen Leitlinien zur Intersexualität beschäftigt. Was besagen diese?

Adrian de Silva, Soziologe (Uni Bremen): Das hängt davon ab, wer sie erstellt hat. In Deutschland gilt die der Gesellschaft für Kinderchirurgie. Die kennt nur zwei Geschlechter – Mann und Frau – und leitet sexuelle Identität von Geschlechtsorganen ab. In den USA gibt es eine andere, die das Selbstbestimmungsrecht von Intersexuellen anerkennt und sagt, dass deren erotisches und reproduktives Potenzial geschützt werden muss.

Und in Deutschland wird so lange operiert, bis das Geschlechtsorgan aussieht wie aus dem Lehrbuch?

Zum Glück nicht mehr zwangsläufig. Durch die Kritik von Intersexuellen weichen jetzt einige Ärzte und Ärztinnen von den Leitlinien ab und verzichten beispielsweise darauf, bei Säuglingen und Kleinkindern eine vergrößerte Klitoris zu reduzieren oder eine Vagina anzulegen – wenn etwa der Penis sehr klein ist und als unzulänglich betrachtet wird.

Wer braucht eine künstliche Vagina?

Das ist die Frage. Abgesehen davon, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass man Geschlechtsorgane „herstellen“ kann – weder die Eltern eines Kindes noch die Chirurgen können voraussehen, wie sich jemand später geschlechtlich definieren wird und welche Sexualität jemand leben möchte. Penetration muss nicht dazugehören.

Und wenn Ärzte und Eltern sich darüber hinwegsetzen?

Viele Intersexuelle berichten von traumatischen Erfahrungen, etwa dadurch, dass ihr Unterleib zu Dokumentationszwecken regelmäßig fotografiert wurde oder dass sie zu Lehrzwecken zur Schau gestellt wurden. Und natürlich wird ihre körperliche Integrität angegriffen. Die meisten leiden ein Leben lang unter den Folgen der Operationen, haben Schmerzen und eine eingeschränkte Sexualität.

Interview: Eiken Bruhn