Jukebox

Die Popgeschichte mit dem Ochsenkarren

Musikvideos zeigen Wahrheit. Auch im Kitsch. In Kambodscha zum Beispiel. Karaokevideos schauen sich dort so: waidwunde Blicke. Am Schluss ein gebrochenes Herz. Alle Bewegung in slow motion. Berührungen kaum. Die Hand auf dem Unterarm ist bereits Hardcore. Idealtypische Handlung: sachtes Anbandeln auf dem Lande, dann taucht Schnösel aus der Stadt auf, die Zeitebenen vermischen sich, er erinnert sich an Begegnungen mit ihr (diese Rückblicke gern in Sepia), schlussendlich fährt sie mit Schnösel davon. Heißt: Auto schlägt Ochsenkarren. Die Moderne hält niemand auf.

Kambodscha hat ein Problem. Es fehlt dem Land an Komponisten. Der Sänger Sapoun Midada, der im Land als Superstar gilt (vgl. Phnom Penh Post, Nov 17-30, 2006), ist etwas Besonderes, allein schon deswegen, weil er seine Lieder selbst schreibt. Ansonsten werden für den steten Karaoke-Schub einfach die Thai-Hits von nebenan gecovert, oder es wird im eigenen Fundus gekramt. In den Sechzigern. Muss eine wilde Zeit gewesen sein damals in Phnom Penh, wo ja selbst der damalige Prinz Sihanouk neben seinen verwirrenden Staatsgeschäften als eifriger Komponist von charmant fernöstlicher Loungemusik auffällig geworden ist. Der König der Khmer-Musik aber ist Sinn Sisamouth. Er schrieb Hunderte von Songs. Eine Mischung aus scheppernder Khmer-Musik, über Fernost gebrochener Soul und ein Gamelan-Rock-’n’-Roll, der den Garagenbeat-Fan unbedingt interessieren muss. Überall in Kambodscha finden sich heute seine CDs, die Lieder von Kassetten und alten Platten gekratzt. So übersteuert manchmal, dass es fast nicht auszuhalten ist. Die Masterbänder aber scheinen verschollen. Zerstört. Weil es da eine kulturelle Lücke in Kambodschas Geschichte gibt. Das Schreckensregime der Roten Khmer. Als sie nach ihrem Einmarsch am 17. April 1975 in Phnom Penh alle Bewohner der Stadt aufs Land vertrieben, war darunter auch Sinn Sisamouth. Seitdem verliert sich seine Spur. Die Roten Khmer machten keine Kulturrevolution. Sie schafften die Kultur einfach ab. Ein Viertel der Bevölkerung starb während der vierjährigen Herrschaft. Erschlagen, verhungert, vergessen. Wie soll sich ein Land davon erholen?

Mehr Kambodscha: noch bis zum 29. Juli im Martin-Gropius-Bau mit der Ausstellung „Angkor – Göttliches Erbe Kambodschas“. Der Soundtrack des Matt-Dillon-Films „City of Ghosts“ (im Gropius-Bau am 25. Juli, 18 Uhr zu sehen) lässt auch von Sinn Sisamouth hören. THOMAS MAUCH