„An Zeitfenster gebunden“

PODIUMSDISKUSSION Frühkindliche Erfahrungen beeinflussen die Entwicklung maßgeblich

■ 69, ist Seniorprofessor für Psychologie der Uni Hamburg und im Präsidium der Leopoldina.  Foto: D. Ausserhofer

taz: Herr Rösler, Sie fordern langfristige Investitionen in frühkindliche Bildungsangebote. Was ist der Anlass?

Frank Rösler: Die vielen Missverständnisse, die die Fachkollegen und auch ich selbst in der öffentlichen Diskussion wahrnehmen, wenn es etwa um Erbe oder Umwelt geht.

Ob genetische oder äußere Faktoren Menschen prägen?

Das wird sehr dichotom gesehen: Also entweder ist es die Umwelt, dann wäre eigentlich alles möglich, oder es ist die Anlage, dann ist es deterministisch. Beide Sichtweisen sind Unsinn.

Inwiefern?

In der Forschung ist gezeigt worden, dass Umwelteinflüsse bereits pränatal beginnen – bis hin zur Prägung erster sprachlicher Kompetenzen in den letzten zwei Schwangerschaftsmonaten. Das betrifft auch andere physiologische Faktoren, die mit Stressregulation und Persönlichkeitsentwicklung zusammenhängen.

Ein Beispiel?

Wenn eine Mutter in den letzten Schwangerschaftsmonaten viel Stress oder häusliche Gewalt erlebt, reagieren die Kinder im Erwachsenenalter nachweisbar anders auf Stress. Solche Einflüsse wirken sich auch in den ersten Monaten nach der Geburt aus. Sie haben vielleicht von den extrem vernachlässigten rumänischen Waisenhauskindern gehört, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entdeckt worden sind. Wurden sie erst nach dem zweiten Lebensjahr adoptiert, hatten sie lebenslange Narben emotionaler Art oder auf der Persönlichkeitsebene.

Woran machen Sie das fest?

Sie waren extrem fehlangepasst und aggressiv, haben ihre Pflegeeltern zum Teil angegriffen. Man kann vieles umlernen, sonst würde Psychotherapie nicht funktionieren, es gibt aber bestimmte Effekte, die sich epigenetisch auswirken und dann kaum veränderbar sind.

Was bedeutet das?

Wir kennen die Gene, die anlagebedingte Prädisposition. Alles, was in unserem Genom festgeschrieben ist, das muss noch freigegeben werden oder es bleibt eingepackt. Dies geschieht in der frühesten Kindheit. Wichtig ist, dass sie an bestimmte Zeitfenster gebunden sind.

Eltern raten Sie, Ihren Kindern so früh wie möglich Fremdsprachen beizubringen.

Das ist auch ein Fazit der Stellungnahme: Eine muttersprachlich äquivalente Sprachkompetenz erwirbt man nur, wenn man eine zweite Sprache bis zum Ende des sechsten Lebensjahres erlernt. Es ist eine irrige Auffassung, dass Bilingualität schadet.

Wie bildet sich das Gedächtnis?

Mit jedem Lernprozess verändert sich die funktionale Struktur des Gehirns, das heißt, es werden neue Synapsen und Verbindungen gebildet oder alte ausgeräumt.  INTERVIEW: LKA

„Was Hänschen nicht lernt …?“: 19 Uhr, Gartensaal des Baseler Hofs