SCHRIPPE MIT WUT UND DAS RECHT AUF ÄRGER
: Being John Matussek

Liebling der Massen

ULI HANNEMANN

Das ist ja wieder typisch, denke ich, das gibt es doch echt nicht: Die einzige Frühstückskarte, die ich sehe, ist auf Englisch. Typisch für diesen Kreuzberger Laden für Hipstertouristen und Leute wie das Kräuterteepärchen, das zuvor auf einem Fahrradtandem (wtf?!) mit Tempo dreieinhalb vor uns über die Oberbaumbrücke eierte, als wären sie ein atmosphärisches Gimmick aus der „Fabelhaften Welt der Amélie“.

„Das ist ja mal wieder typisch“, poltere ich in die Runde, weil ich alles, was ich denke, für derart relevant halte, dass ich es lauthals verkünden muss. „So weit ist es also schon. Die haben ja wohl den Hammer schlechthin. Die Frühstückskarte nur auf Englisch! Also langsam weiß ich echt nicht mehr.“

Selbstverständlich reicht mein Englisch allemal aus, um eine Frühstückskarte zu lesen. Aber darum geht es nicht. Es geht ums Prinzip. Ich bin der Rächer der Unterdrückten. Ich kann ja Englisch, doch ich spreche nicht für mich. Es geht nämlich ums große Ganze, es geht darum, dass in der Gegend womöglich immer noch Menschen leben, die sich ausgeschlossen fühlen könnten, obwohl sie doch von hier sind. Dabei wohnen – Hand aufs Herz – hier solche Menschen sowieso schon längst nicht mehr.

Aber was wäre denn, wenn doch. Und wenn ich jetzt eben einer von denen wäre und obendrein kein Englisch könnte? Das ist meine momentane Herangehensweise. Ich versetze mich einfach in die Situation eines wackeren einheimischen Arbeiters, nennen wir ihn Bolle, der in das Café kommt und kein Englisch kann, er kann ja noch nicht mal richtig Deutsch, und dann setzt er sich an so ’nen Tisch, der Malocher, so von Borsig oder so, das gibt es ja alles längst nicht mehr, hat alles dichtgemacht, früher gab’s noch ehrliche Arbeit für ehrliche Menschen, und möchte frühstücken. Eine Schrippe mit Wurst, einen Kaffe mit einem E und mit Mülsch und ein Ei.

Und dann kommt dieser Kellner. Der by the way schon die ganze Zeit als äußerstes Servicemerkmal versucht, nicht allzu klar zu zeigen, wie sehr er uns verachtet. Kommt nun zu unserem Freund Borsig-Bolle, den er noch mehr verachtet als uns, und knallt ihm da diese Karte hin, die für den doch aussehen muss wie Hieroglyphen. Der wird hier doch zwangsgentrifiziert. Also stelle ich mir stellvertretend vor, ich könnte kein Englisch und wäre deshalb traurig, wütend und halbverhungert. Ich stelle mich dumm.

Übrigens bemerke ich nun, dass die einseitige englische Karte in einer mehrseitigen und ausführlicheren deutschsprachigen Karte steckt. Kurzzeitig bin ich richtiggehend enttäuscht. Das entzieht meiner gerechten Wut doch komplett die Grundlage. Ich will mich aber aufregen, ich rege mich doch so gerne auf. Heiliger Zorn. Hab ich die deutsche Karte überhaupt gesehen? Nö, nicht wirklich, oder? Könnte doch gut sein, dass es die trotzdem nicht gibt. Das wäre doch typisch – was für Arschlöcher aber auch. Scheiße, ich lass das Ding einfach verschwinden und stelle mich weiter dumm.

Diese denkfaule Pose ist gerade sowieso ganz groß in Mode. Dummstellen wider besseres eigenes Wissen. Egal, ob es um Genderforschung, Homöopathie oder Energiepolitik geht, stellen Intellektuelle, die sich ebenfalls gern aufregen, Extrempositionen als repräsentativ fürs Ganze dar, oder unterdrücken bzw. verfälschen wesentliche Informationen, um die daraus resultierende Dumpfbackigkeit dann als neue Erkenntnis zu verbreiten. Und bei den echten Dumpfbacken fällt die natürlich auf fruchtbaren Boden.

Will ich mich mit so einer Methode wirklich gemeinmachen? Ich ziehe die zerknüllte deutsche Frühstückskarte wieder unter dem Zeitungsstapel hervor. Die Wahrheit lässt sich vielleicht verbiegen und unter den Teppich kehren, doch verschwinden wird sie dadurch nicht.