Eine neue Chance für die Gesamtschule?

Das „2-Säulen-Modell“ – auf der einen Seite Gymnasien, auf der anderen Sekundarschulen – „ist ein Irrweg“. Sagt Bremens neue Bildungssenatorin Renate Jürgens-Pieper (SPD) in einem Konzept, das unter dem neuen Namen „Gemeinsame Schule“ den Weg für eine neue Gesamtschul-Initiative aufzeigen soll. Das Papier skizziert sozialdemokratische Schulpolitik – und legt auch Punkte der Ratlosigkeit offen

Von Klaus Wolschner

Die Lage ist grotesk: Die bildungspolitische Initiative der 70er Jahre, die die Gesamtschule zur Regelschule machen wollte, ist steckengeblieben – in Hessen wie in Niedersachsen und Bremen. Gleichzeitig, so scheint es, hat das bundesdeutsche Schulsystem mit den PISA-Vergleichstests denkbar schlechte Noten erhalten – gerade auch in den Bundesländern, die die Gesamtschule zum Konzept erhoben hatten. Aus Gründen, die eigentlich für die Gesamtschulen angeführt wurden: Die „soziale Koppelung“ ist in Deutschland hoch, nur wenigen Kindern aus bildungsfernen Schichten verhilft das Schulsystem zu einem höheren Abschluss. Und andererseits wegen der schlechten durchschnittlichen Resultate unter den 15-Jährigen insgesamt.

Die neue Bremer Bildungssenatorin Renate Jürgens-Pieper hat in den letzten Monaten im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung an einem Konzept mitgearbeitet, das für die sozialdemokratische Schulpolitik einen Weg aus diesem Dilemma sucht.

„Das 2-Säulen-Modell ist nach Auffassung der Autoren ein Irrweg“, heißt es in dem Papier „Gegen den deutschen Sonderweg – für eine Gemeinsame Schule“. (dokumentiert unter www.mehr-dazu.de). Denn die Kinder werden auch da auf die Schultypen aufgeteilt, im Zweifelsfall nach unten durchgereicht – „neues pädagogisches Denken und Handeln“ sei aber angesagt.

„Lernen ist das Allerindividuellste auf der ganzen Welt, es ist genauso individuell wie die Liebe“, formulierte Hartmut von Hentig, der Nestor der gescheiterten großen Gesamtschul-Initiative der 70er Jahre. Und da will das dreigliedrige System durch „frühes Sortieren“ homogene Lerngruppen schaffen, in denen die grauen Zellen sich im Gleichschritt vorwärts bewegen?

„Umgang mit Vielfalt“ ist das Stichwort, und mit dem neuen Begriff „Gemeinsame Schule“ soll eine unbelastete Dachmarke für einen zweiten Anlauf geschaffen werden. Der Übergang auf den neuen Namen „Gemeinsame Schule“ dürfe „nicht als Distanzierung oder gar Diskriminierung der bisher geleisteten guten Arbeit in den Gesamtschulen verstanden werden“, heißt es in dem Papier. Für den Weg von der Gesamtschule zur „gemeinsamen Schule für alle“ bleibt als „Gretchenfrage: Wie lange soll das Nebeneinander von Gemeinsamen Schulen und Schulen des gegliederten Systems dauern?“

Wenn der souveräne Elternwille regiert ...

Die konsequente Ablösung des gegliederten Schulsystems durch die Gesamtschulen ist politisch gescheitert. „Die Frage der Schulentwicklung ist eine der wenigen wirklich strittigen Fragen zwischen den beiden politischen Lagern.“ Nur die Hälfte der Bevölkerung wünsche eine gemeinsame Schule, die andere, „etwa gleich große Gruppe von Eltern“ befürwortet aber „eine frühe Separierung der Kinder auch mit schichtspezifischen Auslesefolgen“. Denn: „Das gegliederte Schulsystem ist schließlich ein System, mit dem Eltern aus privilegierten Schichten ihren privilegierten Status mit hoher Wahrscheinlichkeit an ihre Kinder weitergeben können.“ Schulreform gegen die Hälfte der Bevölkerung geht aber nicht: „Wer etwas durchsetzen will, wer eine Mehrheit von Menschen gewinnen will, muss die Menschen spüren lassen, dass die angebotene Lösung klar und überzeugend ist.“ Und den Elternwillen wollen die Autoren um die neue Bremer Bildungssenatorin nicht antasten: Der Bestand einer Schulform soll „vom Elterninteresse abhängig“ bleiben „und damit von einer hinreichenden Nachfrage“.

In Bremen hat das zu einem deutlichen Trend der Zweigliederung geführt: Auf der einen Seite die Gymnasien, die das Abitur nach zwölf Schuljahren anbieten und von der Hälfte der Eltern „nachgefragt“ werden, auf der anderen Seite die Gesamtschulen, die im Vergleich zu der anderen Säule des bremischen Schulsystems, der „Sekundarschule“, den Weg „nach oben“ offenhalten, indem sie einen gymnasialen Bildungsgang mit 13 Jahren anbieten.

Die Frage ist also, wie die Eltern von Kindern mit Gymnasial-Empfehlung für die „Gemeinsame Schule“ gewonnen werden können. Derzeit handeln Eltern im Interesse ihrer Kinder richtig, wenn sie Kinder mit Gymnasial-Begabung auch aufs Gymnasium schicken, stellt das Papier fest: „Unzweifelhaft nachgewiesen sind inzwischen die unterschiedlich fördernden Bedingungen in den drei Schultypen“, heißt es da. Bildungsbürgerlich orientierte Eltern sind „sehr gut beraten, ihr Kind im gegliederten System im Augenblick auf dem Gymnasium anzumelden, da es dort bei gleichem Leistungsvermögen besser gefördert wird als an der Real- oder Hauptschule“.

Um dies zu verändern, schlagen die Autoren des Konzeptes „Gemeinsame Schule“ zwei strategische Ziele vor: Einerseits soll die Gesamtschule „positive gymnasiale Qualitäten realisieren.“ Andererseits soll die „Abschulung“ unterbunden werden.

... muss Gesamtschule attraktiver werden

Gesamtschulen sollen für den gymnasialen Bildungsgang attraktiver werden. „Nur solche Schulen, die die reformpädagogischen Traditionen weiterführen und gleichzeitig nach fachlicher Brillanz und Spitzenleistungen streben, haben die Chance, eine Alternative zu den Schulen des gegliederten Schulsystems zu sein.“ Die Gesamtschule soll ihre Stärken – die Abkehr vom Frontalunterricht, Differenzierung der Anforderungen innerhalb einer Lerngruppe, Förderung selbstständigen Lernens - weiterentwickeln und gleichzeitig aber „äußere Leistungsdifferenzierung“ in den Kernfächern Mathematik, Englisch und Naturwissenschaften einführen, um eben zu fachlichen „Spitzenleistungen“ zu kommen. „Im Fach Deutsch findet die Leistungsdifferenzierung klassenintern statt.“ Auch bei der äußeren Leistungsdifferenzierung soll es keinen Rückschritt zum „gleichschrittigen Unterricht“ geben, der unterstellt, verschiedene Kinder könnten auf ein gleiches Lerntempo gebracht werden. An die Stelle der Klassenarbeit, die den illusionären Versuch darstellt, „Lernstoff zum gleichen Zeitpunkt zu messen“, soll der Lernstoff in „Kompetenzraster“ aufgeteilt werden. „Eine Lernanforderung wird an eine Schülerin bzw. einen Schüler erst dann gestellt, wenn festgestellt wird, dass die Kompetenzen, die notwendige Voraussetzung für deren Bewältigung sind, im Vorhinein erworben wurden.“ Anstatt Druck aufzubauen mit permanent drohenden schlechten Zensuren soll so mit Erfolgserlebnissen positiv motiviert werden. Je älter die Schüler werden, desto stärker sollen sie mitentscheiden über den Schritt zu den nächsten Lernaufgaben.

Die spannende Frage ist, ob die Gesamtschulen beides schaffen – die Förderung von Kindern, die nicht aus bildungsbürgerlichen Elternhäusern kommen und von Haus aus Begabung, Vorbilder und Motivation mitbringen, und gleichzeitig die „Spitzenleistung“. Die bremischen Gesamtschulen sind stolz auf ihre Absolventen, die nach der 10. Klasse auf herkömmliche Oberstufenzentren gehen und dort sehr gute Abitur-Noten erreichen. Aber das sind Einzelfälle – in den Gesamtschulen selbst steht der Aspekt, dass die „Gymnasialkinder“ die anderen mitziehen und als Vorbild dienen können, im Vordergrund. Das macht die Gesamtschulen attraktiv für die, deren Alternative sonst die Sekundarschule wäre, nicht aber für die Hälfte der Bevölkerung, die ihre Kinder lieber aufs Gymnasium schicken. Dass an den Gesamtschulen vorwiegend Kinder aus bildungsferneren Schichten angemeldet wurden, war aber schon in den 70er Jahren zu deren Problem geworden. Die Verkürzung auf ein zwölfjähriges gymnasiales Curriculum erschwert das Werben um Kinder mit Gymnasial-Empfehlung in besonderer Weise.

Kein Sitzenbleiben, keine „Abschulung“

Die Gesamtschulpolitik der 70er Jahre zielte darauf ab, die schwierige Konkurrenz der Systeme durch Abschaffung der Gymnasien auszuschalten. Das hat sich als politisch nicht durchsetzbar erwiesen. So bleibt die Möglichkeit, die Gesamtschulen durch besondere Ausstattungs-Vorteile attraktiver zu machen. Die modernere Pädagogik ist zwar ein Pfund, mit dem die Gesamtschulen wuchern können, hat sich bisher aber nicht als ausreichender Vorteil erwiesen, der die Gesamtschule attraktiv für eine größere Zahl von bildungsbürgerlichen Eltern gemacht hätte.

Ein kleines Folterwerkzeug soll aber hinzukommen, um die Gymnasien in die Zange zu nehmen: Sitzenbleiben gegen den Willen der Eltern sollte also schlicht per Verordnung untersagt werden, gleichzeitig sollte auch per Verordnung die „Überweisungsmöglichkeit“ auf eine andere Schulform untersagt werden. Der Fördercharakter des Sitzenbleibens sei „nicht nachweisbar“, heißt es zur Begründung, einzige Folge des Sitzenbleibens sei, dass die Kinder länger im Schulsystem verbleiben. Damit soll das Gymnasium „ein Kernstück seines Handlungsinstrumentariums“ verlieren, eben weil die „falschen“ Schüler nicht mehr aussortiert werden könnten. „Jede Schule muss sich bei Aufnahme eines Schülers darauf einstellen, sich selbst um dessen Schulerfolg und Abschluss zu kümmern. Bei freier Schulwahl für die Eltern und damit freiem Elternwillen liegt in diesem Beschluss das Herzstück der Umgestaltung des gegliederten Schulsystems.“ Es soll deshalb am Anfang des langen Weges zur „Gemeinsamen Schule“ stehen. Konsequent zu Ende gedacht müssten Gymnasien damit auch Haupt- und Realschulabschlüsse anbieten – wenn Eltern sich weigern, ihre Kinder bei dauerhaft unzureichenden schulischen Leistungen auf eine andere Schule zu schicken – „Gymnasium für alle“ wäre ein schönes Etikett für die hässliche Lage, in die Kinder da gebracht werden. Dass das Folterwerkzeug des „Abschulverbotes“ die Gymnasien wirklich knacken könnte, muss man bezweifeln.

Das Konzept der „Gemeinsamen Schule“ setzt auf Überzeugung, macht die Durchsetzung dieses Schultyps für alle abhängig vom Elternwillen. Wie das gehen soll, bleibt am Ende des Konzeptes, an dem die bremische Bildungssenatorin mitgearbeitet hat, offen. Die Reform erfordert „politischen Mut und Beharrlichkeit“, heißt es da, der Elternwille solle „wirklich ernst genommen“ und zum „Hebel der Veränderung“ werden. Gleichzeitig wird aber festgestellt, dass ein Kompromiss mit den „konservativen Kräften“, die die bildungsbürgerlichen Interessen vertreten, „nicht in Sicht“ sei. Die Lösung des Dilemmas soll eine überzeugende „pädagogische Zielkonzeption“ bringen, so wie sie in dem Konzept vorgelegt wurde.