WIR:HIER

Kapitel 6

Lauras Bus fuhr an und Matteo sah ihr noch einen Moment sprachlos hinterher. Was sollte denn jetzt diese blöde Geste von Laura? Er gab sich einen Ruck und machte sich auf den Heimweg. Je näher er seinem Zuhause kam, desto langsamer wurden seine Schritte. Er hatte absolut keine Lust, nach oben zu gehen. Katja, die Freundin seiner Mutter, war da, ihr alter Opel stand an der Ecke und Katja konnte er nicht leiden. Seine Mutter verhielt sich anders, wenn sie da war, und beide wollten dann immer so auf extrem gutgelaunte Familie machen, das ging ihm auf die Nerven. Mama hatte sich bestimmt ein Lachen aufs Gesicht geschminkt und gekocht. Vielleicht aber hatte er auch Glück, und die beiden würden schon vor dem Fernseher sitzen, um GNTM zu gucken oder alte Folgen von Dr. House. Dann könnte er sich nach einem schnellen Hallo auf sein Zimmer verziehen. Er hatte wirklich keinen Bock auf eine Unterhaltung. Was sollte man auch antworten, wenn man in seinem Leben schon viertausend Mal dasselbe gefragt worden war, nämlich: „Und Matti, wie war’s in der Schule?“

Wie soll es da schon sein. Wie es in der Schule eben ist. Mittel. Würde er aber genau das sagen, nämlich die Wahrheit, käme unweigerlich ein „Wieso? Was war denn los?“.

Man musste ständig so tun, als wäre man jemand anderes. Sonst wurden Eltern sofort hellhörig. Weil sie es nicht ertragen konnten, dass ihre Kinder so waren, wie sie halt waren. In Matteos Fall bedeutete das: mittel. Mittelgut, mittelbeliebt, mittelbegabt, fast mittelhübsch. Ganz und gar durchschnittlich. Das Wissen, dass er in keinem Bereich über das Mittelmaß hinausreichte, war schon hart genug, aber dieses ewige Sichverstellen, nur damit seine Mutter glauben konnte, alles sei super und in bester Ordnung, das war fast noch schlimmer.

Endlich war der Fahrstuhl da, Matteo drückte auf den Knopf mit der Sechs, die Türen schlossen sich und er starrte, wie jeden Tag, auf die Graffitis an den Wänden des Fahrstuhls. Zwei der Tags waren von ihm, mittlerweile fand er sie albern. Krakelig sahen die aus, wie von einem Kleinkind. Er konnte nämlich noch nicht mal gut zeichnen.

Oben angekommen schloss er leise die Wohnungstür auf, hörte die Stimmen seiner Mutter und Katja aus der Küche murmeln und schlich in sein Zimmer. Gerade, als er die Klinke herunterdrücken wollte, rief Mama aus der Küche: „Matti, bist du das? Komm doch noch ein bisschen zu uns, wir sind in der Küche.“

Er schlug mit der flachen Hand gegen seine Stirn. Natürlich ist er es, wer sonst, und natürlich sitzen die beiden in der Küche, andernfalls wäre ja im Wohnzimmer Licht. Sie lebten schließlich in einer Drei-Zimmer-Wohnung und nicht in einem Schloss. „Ja, gleich, ich leg nur meine Sachen weg.“ Er ließ sich Zeit und stand dann mit krummem Rücken im Türrahmen der Küche.

„Hallo, Schätzchen, komm, setz dich. Möchtest du noch was essen? Katja hat Lasagne mitgebracht.“

Jetzt erst merkte er, was für einen Hunger er schon die ganze Zeit hatte, und nickte. Seine Mutter schob einen Teller erst in die Mikrowelle und dann unter seine Nase, stellte ein kleines Glas dazu, goss einen Schluck Rotwein hinein, setzte sich neben ihn und strich über seine Haare.

„Wie war dein Tag?“

„Ganz gut.“ Und erstaunlicherweise beließ seine Mutter es bei dieser einen Frage und erzählte stattdessen von Urlaubsplänen, die sie mit Katja geschmiedet hatte.

„Wir haben überlegt, dass wir in den Herbstferien zusammen wegfahren könnten. Vielleicht nach Mallorca, da könntest du deinen Tauchschein machen. Wir mieten ein Häuschen irgendwo am Meer. Was meinst du?“

„Wir drei?“

„Ja klar, wir drei.“

„Mal sehen.“

„Na, mein lieber wortkarger Sohn, das ist ja fast schon Begeisterung, die ich da höre.“ Matteo musste grinsen. Den Tauchschein wollte er schon lange machen, das wusste sie genau. Die Vorstellung, eine Woche aus Berlin rauszukommen, ans Meer zu fahren, Wellen und Wind und Steine, die gefiel ihm.

„Ja, ich überleg es mir. Ich geh mal pennen, ich bin müde.“

Katja prostete ihm mit ihrem leeren Glas zu. „Tschüss, Matteo. Schlaf gut.“ „Du auch.“

So schlecht war seine Mutter eigentlich gar nicht. Jedenfalls manchmal fand er sie doch ganz okay. Nur Katja, wie die versuchte, sich an ihn ranzuschmeißen, sie wollte so gerne von ihm gemocht werden, und genau darum konnte er sie einfach nicht leiden.

Im Bett chattete er noch ein wenig mit Jason in Atlanta, der im vergangenen Jahr als Austauschschüler in seiner Klasse war und mit dem er sich angefreundet hatte. In Atlanta wäre er jetzt auch gerne, noch einen Milkshake im Ballabou trinken, eine Runde Billard spielen und am nächsten Tag in die Schule gehen, die laut Jason so viel einfacher war als seine eigene.

Bevor Matteo das Licht löschte, schrieb er eine SMS an Laura. „Ich freu mich schon auf unser Treffen. Aber ICH gewinne.“ Kaum war sie abgeschickt, ärgerte er sich, dass er so schnell auf Senden gedrückt hat. „Du traust dich sowieso nie. Ich schwöre!“ schickte er schnell hinterher. „Schlaf gut!!!“ Die dritte SMS hat sich von alleine geschrieben und abgeschickt. Als er das leise Pling hörte, mit dem sein Handy anzeigte, dass er eine SMS erhalten hatte, konnte er sich vorstellen, was Laura geantwortet hätte: irgendeine Gemeinheit. Stattdessen: ein schnarchender Smiley und „Du auch“.

Eigentlich war auch Laura ganz in Ordnung. Wenn sie nur nicht so eine Angeberin und eine verdammt gute Gitarristin wäre. Zufrieden machte er die Augen zu und überhörte den kleinen Sprung, den sein Herz gerade gemacht hatte.

Mama hatte sich bestimmt ein Lachen aufs Gesicht geschminkt und gekocht

Sarah Schmidt publizierte bereits diverse Bücher und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Ihr aktueller Roman „Eine Tonne für Frau Scholz“ ist imVerbrecher Verlag erschienen und in der Hotlist der 10 besten Bücher ausunabhängigen Verlagen2014. Für die taz schreibt sie den Fortsetzungsroman WIR:HIER www.sarah-schmidt.de