Der Hang zum Experiment

MUSIK Tarwater haben ein neues Album aufgenommen, heute Abend stellen sie es im Berghain vor. Ronald Lippok und Bernd Jestram über Räume und Sounds, Musikmachen in der DDR und den Einfluss von John Peel

■ Die Band: Unter dem Namen Tarwater machen Bernd Jestram (52) und Ronald Lippok (51) seit 1995 zusammen Musik. (Ziemlich genau so lange spielt Ronald Lippok mit seinem Bruder Robert und dem Düsseldorfer Stefan Schneider bei To Rococo Rot.)

■ Die Geschichte: Die musikalische Partnerschaft von Bernd Jestram und Ronald Lippok beginnt Mitte der achtziger Jahre bei der DDR-Undergroundband Ornament & Verbrechen. Seitdem sind Lippok und Jestram in diversen Zusammenhängen aktiv, produzieren Bands und machen Musik für Film, Theater, Literatur, Hörspiele oder Ausstellungen, zuletzt für das TV-Projekt „24h Jerusalem“.

■ Das Album: Das Erscheinen des neuen, wundervoll melancholischen Albums „Adrift“ (Bureau B/ Indigo) feiern Tarwater heute mit einem Konzert im Berghain.

INTERVIEW THOMAS WINKLER

taz: Herr Jestram, Herr Lippok, auf dem Cover von „Adrift“, dem neuen Album Ihres gemeinsamen Projekts Tarwater, ist das Tempelhofer Feld zu sehen. Warum?

Bernd Jestram: Wir sind Berliner Musiker, die in Berlin Musik machen. Da hat die Musik auch immer etwas mit der Stadt zu tun, und dann hat man eben auch ein Motiv aus der Stadt auf dem Cover.

Ronald Lippok: Wir arbeiten immer in der Stadt. Wir haben noch nie darüber nachgedacht, aufs Land zu fahren, um dort ungestört ein Album aufzunehmen. Im Gegenteil: Wir brauchen das, wir müssen rausgehen, wir wollen ein DJ-Set hören. Wir brauchen die Stadt.

Wo und wie ist Berlin zu hören auf „Adrift“?

Lippok: Das ist kein Berlin-Soundtrack. Wir haben parallel zu diesem Album auch die Musik für „24h Jerusalem“ gemacht.

Das TV-Großprojekt, in dem ein ganzer Tag lang in Echtzeit der Alltag von Jerusalem dokumentiert wurde.

Lippok: Da versucht man, sich dem Sound dieser Stadt anzunähern, und das hat dann wieder Einfluss auf andere Arbeiten. „Adrift“ ist deshalb kein Album über Berlin oder Istanbul, sondern die Storys spielen eher in einer imaginären Stadt.

Das Tempelhofer Feld ist auch ein Versprechen von Freiheit im urbanen Raum.

Lippok: Natürlich ist es wichtig, in der Stadt solche unbebauten Räume zu haben. Und natürlich ist in unserer Musik auch Amor Vacui, die Liebe zum leeren Raum, zu hören. Andererseits haben wir auch nichts gegen Opulenz, was man der Platte hoffentlich ebenfalls anhören kann.

Das neue Album klingt vor allem sehr akustisch, kaum noch elektronisch.

Jestram: Wir haben viele akustische Instrumente verwendet, das stimmt. Aber ist es nicht völlig egal, wie Musik produziert wird? Mich nerven diese Technikdiskussion nur noch.

Lippok: Elektronische und akustische Instrumente werden immer noch gegeneinander ausgespielt, als ob Metall weniger Seelenleben hätte als Holz. Uns ist das egal, denn bei uns stehen am Anfang immer Klangräume, von denen wir ausgehen. Es gibt möblierte und unmöblierte Räume, manche sind dunkel, andere hell, einige sind renovierungsbedürftig.

Gerade wurde 25-jähriges Mauerfalljubiläum gefeiert. Wie haben Sie die Nacht damals erlebt?

Lippok: Ich kann mich genau an die Nacht erinnern. Ich bin nach Westberlin gefahren, um meinen Bruder Ronald zu sehen, der die DDR schon vorher verlassen hatte. Wir haben gefeiert.

Jestram: Ich habe den umgekehrten Weg gemacht. Ich war ja schon vier Jahre zuvor ausgereist. Alle sind von Ost- nach Westberlin gefahren, ich bin von West- nach Ostberlin gegangen in der Nacht. Dann habe ich ganz allein eine Runde in der Stadt gedreht, ich wusste ja, dass niemand da sein würde. Als ich dann zurückkam in meine Wohnung im Westen, war mein Bruder da.

Lippok: Bernd und ich haben uns zwei Tage später wiedergetroffen. Und haben wir gleich wieder angefangen, miteinander zu arbeiten.

Jestram: Wir hatten aber auch nie den Kontakt verloren. Wir haben uns immer ausgetauscht. Und es war sofort klar, dass wir wieder was zusammen machen würden. Es war, als hätten wir uns bloß ein paar Tage nicht gesehen.

Sie beide machen schon seit Anfang der achtziger Jahre zusammen Musik, anfangs in der legendären Ostberliner Underground-Band Ornament & Verbrechen. Was bedeutete der Mauerfall für die Band?

Lippok: Wir hatten schon vor dem Mauerfall immer wieder mit westlichen Musikern zusammengearbeitet, mit Leuten wie Mario Mentrup von Knochengirl. Die kamen aus Kreuzberg, um mit uns was aufzunehmen oder Konzerte zu geben. Das war natürlich immer sehr kompliziert für die, ihre Instrumente in den Osten zu schmuggeln. Da war es auch künstlerisch eine Befreiung, dass die Mauer gefallen ist. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich einen kreativen Zuwachs gehabt hätte, nachdem die Mauer gefallen war. Wir haben uns vor ein paar Jahren für die Kompilation „Spannung. Leistung. Widerstand“ noch mal durch die alten Sachen gehört. Da war ich selber überrascht, wie viele von den Sachen, die wir damals gemacht haben, auch heute noch eine Relevanz haben, wie wenig die musikalische Substanz infiziert scheint von den Umständen. Vieles von dem könnten wir heute noch genauso machen. Die Liebe zur Literatur, der Hang zum Experiment, die Idee, Instrumente umzubauen und in neuen Kontexten zu verwenden, das war damals alles schon da.

Inwiefern waren Ornament & Verbrechen ein DDR-Phänomen?

Lippok: Ornament & Verbrechen waren schon zu Ostzeiten ein Gerücht. Viele kannten zwar den Namen, aber wussten nicht, was die Band eigentlich macht. Die Band hatte die Reputation, schräg zu sein, seltsame Dinge zu treiben. Aber wir haben uns niemals als DDR-Band verstanden. Wir haben versucht, möglichst unbehelligt unser eigenes Ding zu machen, was mal leichter, mal schwieriger war. Weil wir keine offizielle „Einstufung“ hatten, haben wir nur für Sympathisanten Musik gemacht, in Wohnzimmern oder Kirchen gespielt und unsere Musik über Tapes an Bekannte verteilt.

Wie konnte man in der doch recht abgeschlossenen DDR eine Nicht-DDR-Identität entwickeln?

„Unser Anspruch war immer, internationaler zu klingen als die kleine, piefige DDR“

Lippok: Wir haben in einer Parallelwelt agiert. Da gab es eine Schattenwirtschaft, Tauschhandel und improvisierte Tonstudios. Man hat versucht, sich abzukoppeln.

Jestram: Und den Soundtrack dafür lieferte John Peel.

Der Radio-DJ John Peel wurde in der DDR kultisch verehrt. Seine wöchentliche BBC-Radio-Sendung wurde auf Kassette aufgenommen, kopiert und verteilt.

Lippok: Ja, aber das war kein Ostphänomen. Auch im Westen saßen jede Woche Jungs vor ihren Taperekordern und haben John Peel mitgeschnitten. In der westdeutschen Provinz war es doch fast genauso umständlich, an die coolen Sachen zu kommen, wie in Ostberlin. Weder von da noch von dort konnte man jede Woche nach London düsen, um sich die neuesten Platten zu besorgen.

Jestram: Ich habe damals beim Musikmachen jedenfalls nicht an die DDR gedacht, sondern mich immer im Verhältnis gesehen zu Musik, die überall stattfindet. Und John Peel war der Mann, der die Musik spielte, die uns interessiert hat. An dieser Musik haben wir uns gemessen. Unser Anspruch war immer, internationaler und globaler zu klingen als die kleine, piefige DDR.

Lippok: Ein umso größeres Privileg war es dann, in den 90ern von John Peel eingeladen zu werden. Das war natürlich toll.

Sie durften später gleich zwei Peel-Sessions für die BBC aufnehmen. Hatten Sie schon vor dem Mauerfall versucht, ihm Tapes zu schicken?

Jestram: Er hatte ja leider schon Mitte der 80er, als wir unser Tapelabel „Assorted Nuts“ betrieben, damit aufgehört, Tapes zu spielen.

Lippok: Ich habe trotzdem immer davon geträumt, dass John Peel eines Tages mal eine Ansage macht: And now – next is Örnäment änd Förbröchen.