TAZ-ADVENTSKALENDER: UNTER DEN LINDEN 4
: Steinklops hinter Säulen

4. DEZEMBER Jedes Haus hat eine Nummer. Doch was dahintersteckt, wissen nur wenige. Zum Glück gibt es Adventskalender: Da darf man täglich eine nummerierte Tür öffnen – und sich überraschen lassen

Kürzlich habe ich Alfred Hitchcocks Thriller „Der zerrissene Vorhang“ (1966) wieder einmal gesehen. Der Film erzählt die Geschichte des US-amerikanischen Wissenschaftlers Michael Armstrong – gespielt von Paul Newman –, der in der DDR Formeln für ein neues Raketenabwehrsystem ausspioniert. Alle „östlichen“ Drehorte wurden in den Universal-Studios in Kalifornien nachgebaut, nur eine Szene spielt an einem Originalschauplatz hinter dem Eisernen Vorhang: Vor der Neuen Wache, in Ostberlin, Unter den Linden 4. Hitchcock war ein Liebhaber und Kenner berühmter Architekturen, die er vielfach als dramatisches Motiv einsetzte.

Die 1818 von Karl Friedrich Schinkel gebaute Neue Wache ist heute die „Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ an der Straße Unter den Linden. Die Gedenkstätte ist öffentlich zugänglich. Geht man hinein, liegen nicht selten Kränze in dem kahlen Gedenkraum mit der „Pietà“ von Käthe Kollwitz in seiner Mitte. Wegen der überlebensgroßen Skulptur hatte es 1993 heftige Kontroversen gegeben, denn auf Wunsch Helmut Kohls waren die Figur und die neue Gedenktafel in der Wache platziert worden.

Bereits Schinkel hatte das Gebäude zur Nutzung für die Wache von Wilhelm III., aber insbesondere als Gedenkstätte für die Gefallenen der Befreiungskriege errichtet. Zum Meisterwerk des deutschen Klassizismus und in der Architekturgeschichte avancierte der Bau darum, ist er doch Prototyp einer bürgerlichen Gedenkarchitektur, die damals die ersten Symbole für Zeremonien des Gedenkens in den öffentlichen Raum stellte.

Die Neue Wache war ein Novum und zugleich das ideale Abbild für eine neue Geschichtspolitik. Ist sie doch ein abstrakt geformter Zentralbau wie Palladios Villa Rotonda und Nachahmung der utopischen Entwürfe der französischen Revolutionsarchitekten. Hinter der doppelten dorischen Säulenreihe tut sich ein quadratischer Raum auf, gekrönt von einem tempelartigen Dreiecksgiebel mit Fries, dessen schlichte Architektur das benachbarte Zeughaus in den Schatten stellte.

Wie die Symbole der Politik sich ändern, änderte sich auch die Neue Wache. 1931 gestaltete Heinrich Tessenow das Gebäude zu einem Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs um. Ab den 1960er Jahren diente es als „Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus“. Unter den Ostberliner Fotomotiven war es die Nummer eins: Bis zum Fall der Mauer standen tagsüber zwei Soldaten des „Wachregiments Friedrich Engels“ als Ehrenwache davor: Lange Kerls, die sich per Stechschritt ablösten und keine Miene verzogen, selbst wenn sie von Frauen angelächelt wurden, die Unter den Linden entlangspazierten.

Der Steinklops von Käthe Kollwitz ist nicht so meine Sache. Mir hat die Action zu DDR-Zeiten besser gefallen. Hitchcock übrigens auch, wie im Film zu sehen ist.

ROLF LAUTENSCHLÄGER