Im Namen der neuen Ordnung

Ob Oberhessen oder Ostfriesland: Warum die deutschen Juden abseits der Großstädte besonders bereitwillig entrechtet wurden, will der Hamburger Historiker Michael Wildt ergründen. Zur Erklärung dient ihm die wechselhafte Idee der „Volksgemeinschaft“

Der Autor nennt seine Arbeit „exemplarisch, nicht repräsentativ“. Es sei keine „Gesamterklärung der deutschen Gesellschaft“, so schickt es der Hamburger Historiker Michael Wildt seinem Buch „Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung“ voraus. Aber mit gesellschaftlichen Veränderungen hat er sich gleichwohl beschäftigt: Mit der Frage, wie sich ein Gemeinwesen gegen einen Teil seiner Angehörigen wendet.

Wildt spürt antisemitischen Aktionen in der deutschen Provinz nach, wie sie sich auch schon vor der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten zutrugen – vom Boykottaufruf über öffentlich inszenierte Erniedrigung bis hin zur kollektiven Gewalttat. Die zwar von oben, aus der Führung von Partei und Organisationen angeordnet wurden, aber eben hier besonders bereitwillig umgesetzt: In den urbanen Zentren, die „im Brennpunkt der öffentlichkeit“ standen, sei das Regime zur Mäßigung gezwungen gewesen. In Dörfern und kleinen Orten aber, „wo die Nazis zwar die Führungspositionen erobert, aber noch nicht die politische Macht errungen hatten“, sei die Verfolgung der jüdischen Nachbarn als „Volksfeinde“ das zentrale Instrument gewesen, um die bürgerliche Ordnung anzugreifen – und an ihrer Stelle die Volksgemeinschaft herzustellen.

Diese mysteriöse Größe namens „Volksgemeinschaft“, spürt er im politischen Diskurs bereits vor dem „Dritten Reich“ auf: Geformt während des Ersten Weltkrieges, führten alle Weimarer Parteien sie gerne im Munde. Verstanden die Sozialdemokraten darunter einen „Ausdruck für den Zusammenschluss der ausgebeuteten Gesellschaftsschichten gegenüber einer kleinen Ausbeuterklasse“, so definierte die Rechte – vor allem die Nationalsozialisten – die Gemeinschaft durch Exklusion: Sie kümmerte die Frage, wer nicht dazu gehören durfte – „allen voran die Juden“.

Zum Beleg betrachtet er Vorgänge in verschiedenen Landesteilen, darunter auch im „peripher gelegenen Ostfriesland“. Als Quellen hat er einerseits die Aufzeichnungen des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.)“ heranziehen können, die erst vor kurzem in Moskau freigegeben wurden. Zum anderen hat der Historiker, der an der Uni Hamburg lehrt und am Hamburger Institut für Sozialforschung arbeitet, auf die Mitschriften der Täter zurückgegriffen: auf Sammlungen mit „Stimmungs- und Lageberichten von staatlichen Stellen“.

Die Motive der ganz normalen Deutschen, „mochten durchaus unterschiedlich gewesen sein“, schreibt Wildt; und wenn auch nicht alle, so machten sie doch überall mit. „Es führt kein zwangsläufiger Weg von den Gewaltaktionen in der deutschen Provinz zum Völkermord“, schreibt er. Aber jede Aktion, die nicht geahndet wurde, habe daran mitgewirkt, die bestehende Ordnung so zu verändern, dass sich zuvor verschlossene Möglichkeiten eröffneten. In der Gewalttat habe ein jeder sich als Teil des politischen Souveräns erfahren können – alle Gewalt ging vom Volk aus. ALEXANDER DIEHL

Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939. Hamburger Edition 2007, 412 S., 28 Euro