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: HELMUT HÖGE wandelt unter geliebten Schattenspendern

„Bäume sind Gedichte, die die Erde in den Himmel schreibt.“ (Khalil Gibran)

Im Sommer zieht es den Städter ins Grüne, inzwischen haben allein die Kreuzberger schon halbe Dörfer zu ihren Datschensiedlungen gemacht. Wem das nicht ganz geheuer ist, der lustwandelt wenigstens am Wochenende durch die inner- und außerstädtischen Wälder. In den Zwischenjahreszeiten erfreut sich der Botanische Garten großer Beliebtheit. Als wir am Wochenende dort waren – und ich mit meinem Journalistenausweis frech Einlass begehrte, wurde mir geantwortet: „Ham wa abgeschafft!“ Und dann war auch noch das Große Gewächshaus wegen Umbauarbeiten vorübergehend abgeschafft.

An den dortigen Waldrepräsentanten aus aller Herren Länder gab es jedoch nichts zu meckern. Leider habe ich die dumme Angewohnheit, schon nach kurzer Zeit nur noch die Schilder unten zu lesen – und nicht zum Beispiel die Baumkronen oben.

Der Semiologe Roland Barthes unterschied die Metasprache, die in der Stadt gesprochen wird, von der Objektsprache auf dem Land. „Die erste Sprache verhält sich zur zweiten wie die Geste zum Akt: Die erste Sprache ist intransitiv und bevorzugter Ort für die Einnistung von Ideologien, während die zweite operativ und mit ihrem Objekt auf transitive Weise verbunden ist.“

Zum Beispiel der Baum: Während der Städter über ihn spricht oder ihn sogar besingt, da er ein ihm zur Verfügung stehendes Bild ist, redet der Dörfler von ihm, gegebenenfalls fällt er ihn auch. Und der Baum selbst? Wenn der Mensch mit einer Axt in den Wald kommt, sagen die Bäume: „Sieh mal! Der Stiel ist einer der Unsrigen.“

Wenn man dem Augenschein und den Neodarwinisten Glauben schenkt, dann herrscht auch unter den Bäumen ein ständiger Konkurrenzkampf (um Nährstoffe, Licht, Bakterien, Pilze etc.). Die russisch-sowjetischen Forstexperten sahen das jedoch – symbiotisch gestimmt – ganz anders. „Es klingt paradox, aber der Wald braucht den Wald“, so sagte es einer von ihnen und fügte hinzu: „Sonst stünden viel mehr Bäume einzeln, wo sie sich doch angeblich besser entfalten könnten.“

Der in den Dreißiger- und Vierzigerjahren führende Agrarbiologe der UdSSR, Trofim D. Lyssenko, empfahl deswegen bei der Wiederaufforstung gleich die Anpflanzung von Bäumen in „Nestern“. Er begründete dies sehr revolutionsromantisch: „Erst schützen sie sich gegenseitig, und dann opfern sich einige für die Gemeinschaft.“

Der Forstwissenschaftler G. N. Wyssozki ging nicht ganz so weit, aber auch er unterschied zwischen vegetativem Freund und Feind: Damit zum Beispiel die Eiche gut wachse, dürfe man sie nicht zusammen mit Eschen und Birken anpflanzen, sondern sollte sie „von Freunden umgeben“ – Büsche: Weißdorn, Gelbe Akazie und Geißblatt etwa. Laut dem Wissenschaftsjournalisten M. Iljin lehrte uns bereits der Gärtner Iwan W. Mitschurin, „dass sich im Wald nur die verschiedenen Baumarten bekämpfen, aber nie die gleichen“.

Von der antidarwinistischen russischen „Symbiose“ kamen wir im Botanischen Garten unmerklich auf unsere – menschliche – zu sprechen, das heißt auf den Wunsch nach dauernder Verschmelzung beim Mann sowie auf den Drang zur Autonomie bei der Frau, während wir gleichzeitig angestrengt nach einem Mammutbaum suchten. Ohne besonderen Grund eigentlich – nur weil er der größte ist und ein Solitär dazu, wie sich dann herausstellte.

Zum Essen fuhren wir später ins „Eckbert“ am Maybachufer. Dort hingen an vielen Bäumen noch die „Rettet Rettet“-Schilder. Es ging um das Fällen von anfangs 200, später 40 Bäumen, um das Ufer am Landwehrkanal neu zu befestigen. Eine Bürgerinitiative kämpfte – relativ erfolgreich – dagegen. Von ihr stammten auch die Schilder.

An einem Baum hing ein Dreizeiler – von Nazim Hikmet: „Leben einzeln und frei wie ein Baum / Und dabei brüderlich wie ein Wald / Diese Sehnsucht ist alt.“ Da hatte jemand Symbioseforschung und Darwinismus zusammenbringen oder an die kommunistischen Zeiten in Kreuzberg erinnern wollen. Egal, es gibt nur eine Natur – in uns und den Linden am Ufer.