„Berlin ist ein Ort der Verkrustung“

Anders als in den 90er-Jahren trauen die Menschen sich nicht mehr, Experimente zu machen, sagt der bulgarische Webdesigner und Schriftsteller Zlatko Enev. Eine neue Heimat hat er hier nicht gefunden

ZLATKO ENEV, 46, ist studierter Philosoph und lebt seit 1990 in Berlin. Der alleinerziehende Vater zweier Kinder verdient sein Geld als Webdesigner. Wenn er mal Freizeit hat, was nicht oft vorkommt, schreibt er bevorzugt Kinderbücher, manchmal aber auch Romane für Erwachsene.

INTERVIEW BARBARA OERTEL

taz: Herr Enev, in Berlin leben hunderte Communities. Über die Bulgaren ist wenig bekannt. Woher kommt das?

Zlatko Enev: In Berlin spiegelt sich nur wieder, was in ganz Europa der Fall ist: Die bulgarische Kultur steht irgendwo in der Ecke.

Sie leben seit 1990 in Berlin. Was hat Sie hierher verschlagen?

Die Liebe. Ich habe meine Frau 1988 in Sofia kennengelernt. Dann hatten wir lange eine besondere Beziehung, das heißt, wir haben uns nur Briefe geschrieben. Plötzlich ging alles ganz schnell, und ehe ich mich umdrehen konnte, landete ich in Berlin.

Wie haben Sie die Stadt kurz nach der Maueröffnung empfunden?

Berlin erschien mir damals wie ein Platz der unbegrenzten Möglichkeiten. Die Stadt damals war wie ein Ameisenhaufen, den jemand mit einem Stock umgerührt hat. Anfang der 90er-Jahre waren Deutschland, die Deutschen und die Berliner viel offener dafür, Nischen zu besetzen. So hat mich mein damaliger Chef einfach nach einigen gemeinsamen Projekten eingestellt und sich einen Dreck darum gekümmert, ob ich die dafür nötigen Diplome hatte.

In Ihrem Roman „Eine Woche im Paradies“ beschreiben Sie das Leben dreier Bulgaren, die 1990 nach Berlin kommen. Ist das Ihre eigene Geschichte?

Nicht ganz. Ich wollte Antworten auf die Fragen geben: Wer sind wir? Wo ist unser Platz in Europa? Wir Bulgaren haben die Tendenz, uns klein zu machen – dabei gibt es dafür keinen Grund. In dem Buch habe ich meine eigenen Erfahrungen als Emigrant verarbeitet, aber auch Geschichten anderer Menschen. Es drückt aus, womit ich in all diesen Jahren konfrontiert wurde.

Was waren einschneidende Erlebnisse?

Der alltägliche Kampf mit den eigenen Minderwertigkeitskomplexen. Das Gemeine ist, dass das alles unbewusst funktioniert. Irgendwann stellst du fest, dass deine Kinder kein Bulgarisch sprechen. Die Leute fragen, warum. Und deine Antwort ist: Wozu brauchen sie es? Aber das ist doch deine Muttersprache? Ja, mag sein, aber wer spricht sie? Ach, sagen sie, schäm dich, du solltest dir Mühe geben. Als Neu-Berliner möchte ich aber nicht von allen auf meinen bulgarischen Hintergrund reduziert, sondern als Zlatko Enev geschätzt werden. Weil ich mich unterbewusst für mein kleines, unbedeutendes Heimatland schäme, muss ich mit besonders viel Energie beweisen, dass ich trotzdem etwas wert bin.

Wie machen Sie das?

Meine Herkunft gibt mir auch Halt. Zum Beispiel der bulgarische Humor. Die Bulgaren wurden geprügelt, aber sie haben es geschafft zu überleben – wie ein Unkraut. Sie haben das dank der Fähigkeit geschafft, alles mit Humor zu nehmen. Man sagt in Bulgarien auch: Schließ mich in einer Toilette ein und ich werde trotzdem eine Möglichkeit finden, ein Geschäft aufzumachen.

Wie hat sich Ihr Blick auf Berlin mit den Jahren verändert?

Es gibt ein mexikanisches Sprichwort, das vielleicht auch für mich gilt: Früher waren wir jung und dumm, jetzt sind wir nicht mehr jung. Ich nehme Berlin zunehmend als Ort der Verkrustung wahr.

Was meinen Sie damit?

Business as usual ist wieder die bestimmende Regel des Alltags geworden. Ein Beispiel: Ich bin seit 12 Jahren selbständig und arbeite als Webdesigner und Buchgestalter. Ich habe in dieser Zeit oft versucht, Verlegern und Verlagen meine Kenntnisse zu verkaufen. Früher mit viel mehr Energie und Lust als jetzt. Mittlerweile bin ich zu der Einsicht gekommen, dass es so, wie ich es mache, nicht klappt.

Warum nicht?

Ich gehe hin, zeige meine Sachen und sage: Das kann ich. Sie fragen mich: Wer bist du? Ich sage, ich bin ein selbständiger Designer, das habe ich gemacht und das kann ich. Normalerweise endet hier das Gespräch, weil ein Einzelgänger wie ich in den Augen der meisten Verleger ein Nobody ist.

Die Deutschen hängen zu sehr an Zeugnissen und Diplomen?

Ich habe das Gefühl, dass die Menschen sich nicht mehr trauen, Experimente zu machen. Oder etwas auszuprobieren, das nicht ihren etablierten Vorstellungen davon entspricht, wie man hier Geschäfte macht.

Laut Angaben des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg waren zum 31. Dezember 2006 insgesamt 5.347 BulgarInnen in der Hauptstadt gemeldet. Diese Zahl ist seit Jahren, wenngleich auch nur geringfügig, so doch kontinuierlich gestiegen. Circa 2.300 davon sind Studenten. Es gibt kaum eine Branche, in der Berliner BulgarInnen nicht tätig sind, vor allem aber haben sich einige Vertreter der Minderheit in den Bereichen bildende Kunst, Musik, Tanz sowie Medizin mittlerweile einen Namen gemacht. Derzeit gibt es in Berlin zahlreiche bulgarische oder bulgarischdeutsche Einrichtungen wie zum Beispiel die Gesellschaft der Freunde Bulgariens Berlin/Brandenburg e. V., das Bulgarische Kulturinstitut, die Bulgarische Orthodoxe Kirche sowie die Bulgarisch-Deutsche Studentenvereinigung „Hashove“. Einen genaueren Überblick über BulgarInnen in Berlin gibt die gleichnamige Broschüre aus dem Jahre 2003, die im Auftrag des Beauftragten des Senats für Integration und Migration erstellt wurde. Sie ist bestellbar unter: Intergrationsbeauftragter@auslb.verwalt-berlin.de

Nebenher arbeiten Sie als Schriftsteller und haben eine Trilogie für Kinder verfasst. Hauptheldin ist die neunjährige Anne, die viele Abenteuer erlebt. Warum gerade Kinderbücher?

Ich habe mir nicht dieses Genre ausgesucht, das Genre hat mich ausgesucht. Ich hatte viel Geld für ein Projekt für ein Computerspiel ausgegeben, aus dem nichts geworden ist. Das Einzige, was davon übrig geblieben war, war ein Szenario für dieses Spiel, was zufälligerweise eine fantastische Geschichte für Kinder war. Und als alles den Bach herunterging, war meine einzige Möglichkeit, diese Niederlage zu verarbeiten, das Schreiben. Als das erste Buch fertig war, habe ich es einem Freund in Bulgarien geschickt. Der rief mich drei Tage später an und sagte: Mein Sohn ist ganz sauer. Er hat dein Buch in einer Nacht gelesen und jetzt fehlt ihm das Ende.

Haben Sie es auch Verlegern geschickt?

Ja, einer rief an und meinte, das sei das Beste, was je für Kinder auf Bulgarisch geschrieben worden sei. Plötzlich bildete ich mir ein, ich hätte den nächsten Harry Potter geschrieben. Ja, und dann kam die Ernüchterung.

Inwiefern?

Bulgarische Schriftsteller haben es nicht leicht. Die Bücher sind Teil des Schulprogramms, mittlerweile sind sie ins Russische und Chinesische übersetzt. Doch all das bringt kein Geld. Stephen King verkauft in Bulgarien 2.500 Exemplare, das ist ein Bestseller. Ich habe 1.000 Exemplare verkauft. Doch damit kann man hier niemanden beeindrucken.

Ist Berlin für Sie ein Stück Heimat geworden?

Nein, ich habe einen sehr komplizierten Prozess der Entfremdung von meiner alten Heimat durchgemacht – und habe es nicht geschafft, hier eine neue zu finden. Doch das ist nicht unbedingt eine negative Erfahrung. Der bulgarische Philosoph Tzvetan Todorow hat einmal geschrieben: „Begnadet ist der, der sich in der Heimat wohl fühlt, erfahren hingegen der, der sich in der Fremde eine Heimat geschaffen hat. Aber nur der ist vollkommen, der sich überall fremd fühlt.“