Angriff auf die Zweckökonomie

TEILNEHMENDES NICHTSTUN Die Performance-Gruppe Ligna möchte ihr Publikum für „Die Große Verweigerung“ begeistern

VON KATRIN ULLMANN

Es ist die Geschichte einer verlorenen Vision: Eigentlich war im August 1914 ein Kongress der Zweiten Sozialistischen Internationalen geplant. Jahrelang hatten Arbeiterorganisationen aus verschiedenen Ländern die Versammlung vorbereitet, wollten vor dem Hintergrund des sich abzeichnenden Krieges einen europaweiten Generalstreik beschließen. Ein Streik, der die Infrastruktur des Krieges hätte zusammenbrechen lassen können – und vielleicht den Ausbruch des Weltkriegs verhindern. Ein faszinierender Gedanke.

Der Kongress fand nicht statt. Das Attentat in Sarajevo im Juli, die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien, die Mobilmachung in Frankreich und Deutschland: Die Geschichte hatte die Pläne der Sozialistischen Internationale überholt. Der Aufruf blieb Utopie. Diese Utopie hat die Hamburger Performancegruppe Ligna zum Ausgangspunkt für ihre jüngste Arbeit gemacht, die partizipative Performance „Die große Verweigerung“, die jetzt auf Kampnagel uraufgeführt wird.

„Wir finden den Verweigerungsmoment interessant und die Idee, eine nicht nationale Identität zu bilden“, sagt Ole Frahm von der Gruppe Ligna. Um den Bogen gleich weiter zu spannen bis in die Gegenwart: „Wie kann man heute eigentlich Widerstand leisten in einer Welt, in der es kaum noch Rückzugsräume gibt? Welche Orte, welche Möglichkeiten von Verweigerung gibt es denn überhaupt noch?“ Wo ist noch Platz für Nischen, ließe sich anfügen, wo für Verstecke und Geheimnisse in einer Welt, in der der Einzelne mitsamt seiner Handlungen, Reisebuchungen und Lieblingsbücher, Einkaufsgewohnheiten und Arztbesuche völlig transparent geworden ist?

Mitmachen ist Pflicht

In „Die große Verweigerung“ hat der geplante Generalstreik von 1914 gewissermaßen Modellcharakter: Er bildet die historische Folie und ist im des ersten Teil des Abends als fiktives, akustisches Reenactment zu erleben. Statt sich aber im Theatersessel zurücklehnen zu können, wird jeder Zuschauer mit einem MP3-Player sowie einem Hörspiel mit Regieanweisungen ausgestattet – und selbst zum Akteur.

Grundlage für Lignas Arbeiten – zu deren prägnanten Anfängen das „Radioballett“ (2002) am Hamburger Hauptbahnhof zählt – ist Bertolt Brechts Radiotheorie aus den späten 1920er-Jahren. Darin setzt sich Brecht mit dem damals noch jungen Massenmedium auseinander und plädiert für eine Veränderung von einem „Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat“. Das Radio solle nicht nur senden, sondern auch empfangen, der Hörer aktiv mitarbeiten. Nur so wird für Brecht das Medium demokratisch genutzt.

Davon ausgehend, beschäftigen sich die drei Medien- und Performancekünstler – neben Ole Frahm besteht Ligna noch aus Michael Hueners und Torsten Michaelsen – mit der „Erforschung der Rezeptionssituation als Quelle für Produktion“. Als Ligna entwickeln sie Konzepte und Texte, schaffen Rahmen und Spielfelder, mal auf der Theaterbühne, mal im öffentlichen Raum – und überlassen die Situation den Besuchern.

Dann wird das Spiel eröffnet: Während der Besucher das jeweilige Hörstück per Kopfhörer – mal auch mit dem Kofferradio – rezipiert, ist er allein. Zugleich macht ihn das Engagement im Raum zum Teil eines Kollektivs, ja: der Performance. Aus einer zunächst zufälligen Konstellation von Teilnehmern wird immer wieder die gezielte Assoziation von Produzenten.

Schlafen, warten, faulenzen

Auch in der „großen Verweigerung“, vor allem im zweiten Teil des Abends, soll diese Situation hergestellt werden. Beim „Pädagogium der Verweigerung“ sind die Teilnehmenden aufgefordert, verschiedene Haltungen der Verweigerung einzunehmen – zu schlafen etwa, zu faulenzen, zu warten. Wie in einem Videospiel ist jedem ein individueller Pfad zugewiesen, der ihn mal allein, mal in der Gruppe agieren oder auch mal innehalten lässt. So stellt jeder Abend eine besondere Situation her, in der die Menschen immer wieder aufs Neue zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Widerstand wird praktiziert – und zugleich darüber reflektiert, wie aufwendig er geworden ist.

„Faulenzen etwa ist eine Verweigerung von Arbeit“, sagt Frahm. „Doch auch die Kreativindustrie hat längst entdeckt, dass man faulenzen muss, um wieder kreativ sein zu können.“ Ligna interessiere, eben diese „Zweckökonomie“ zu durchbrechen. „Mein Traum wäre es, wenn dieses Stück es bewirken könnte, dass alle Teilnehmer sich auch im Alltag verweigern, etwa am nächsten Morgen einfach im Bett liegen bleiben und nicht zur Arbeit gehen.“

Aber was, wenn die Zuschauer sich der Performance verweigern? „Damit haben wir kein Problem“, sagt Frahm. Es gebe Szenen, die dann nicht funktionieren würden. „Das ist ein Risiko, das wir eingehen müssen. Es gibt immer einige, die sich bei unseren Stücken dem Mitmachen verweigern, weil sie Sorge haben, ihre kritische Distanz zu verlieren.“ Damit verweigerten sie sich zwar dem jeweiligen Stück – nähmen aber „eine sehr konventionelle Rezeptionshaltung ein“.

■ Do, 11. 12., 19.30 Uhr, Kampnagel; weitere Aufführungen: 12., 13., 18.–20. 12.