„Fast die ganze Menschheitsgeschichte“

KLASSIKER An der Landesbühne Nord inszeniert Jan Steinbach „Iphigenie auf Tauris“. Aber was hat uns Goethes „verteufelt menschliches“ Stück heute eigentlich noch zu sagen?

■ 34, hat Theaterregie in Frankfurt/Main studiert. Seine ersten freien Inszenierungen führten ihn an die Landesbühne Nord. 2009 für den Theaterpreis „Faust“ nominiert.

taz: Herr Steinbach, „Iphigenie auf Tauris“ ist einer dieser Stoffe, bei denen man oft nicht weiß, was warum geschieht – und im Zweifelsfall richten’s die Götter. Was reizt einen Regisseur heute daran?

Jan Steinbach: Genau das finde ich spannend: im Theater in eine fremde Welt gezogen zu werden. Aber das reicht natürlich nicht. Der Gedanke der Selbstbestimmung, der in der Iphigenie ganz wichtig ist, ist ein Gedanke der Aufklärung, die als Grundlage unserer Gesellschaft gilt. Goethe selbst hat das Stück als „ganz verteufelt human“ bezeichnet. Er hat seine Figuren eher als Ideen angelegt.

Klingt zeitlos.

Die Frage ist, ob der Glaube an das Gute, Menschliche in Iphigenie heute noch trägt und worin eigentlich das Gute liegt. Gerade im Zusammenhang mit all dem Schrecklichen, was in dieser Zeit passiert ist, war es spannend, zu schauen, inwiefern das Menschliche weniger ein besonders reines moralisches Handeln ist als der Versuch, sich aus einer Situation zu erretten. Versucht Iphigenie nicht eigentlich eher, ihr eigenes Leiden zu beenden? Man hat ja das Gefühl, dass die Figuren von unsichtbaren Mächten bestimmt sind. Was Iphigenie macht, ist ein Schritt der Emanzipation. Heute sind es eben keine Götter mehr, auch zu Goethes Zeiten schon. Ich habe bei der Arbeit oft an „Empört euch!“ von Stéphane Hessel gedacht, weil ich das Gefühl habe, dass gerade heute wichtig ist, auf diese Selbstbestimmtheit hinzuweisen, die vielleicht das einzige ist, was wir noch haben.

Aber Iphigenie kommt nur heil heraus, weil sich Barbarenkönig Thoas von ihrer Ehrlichkeit beeindrucken lässt.

Sie geht ein Risiko ein. Und natürlich ist das eine Konstruktion. Aber auf der anderen Seite lässt sie Thoas eigentlich keine Wahl. Sie drängt ihn förmlich in die Enge. Natürlich könnte das auch schiefgehen. Aber genau das ist der Mut, den sie aufbringt.

Dieses „verteufelt Menschliche“ ist eine enorme Überhöhung. Was ist denn, außer Iphigenies „Wahrhaftigkeit“, das Prinzip der Humanität?

Es fängt bei Iphigenie damit an, dass sie nach ihrer Ankunft auf Tauris die Menschenopfer unterbindet, indem sie die Barbaren gewissermaßen aufklärt und sagt: Das ist nicht menschlich.

Sie stößt einen Zivilisationsprozess auf Tauris an.

Ja. Thoas sagt am Ende: „Du glaubst, es höre / Der rohe Skythe, der Barbar, die Stimme / der Wahrheit und Menschlichkeit, die Atreus, / der Grieche, nicht vernahm?“ Der Barbar soll auf etwas zurückgreifen, das in seiner Gesellschaft nicht verankert ist. Iphigenie antwortet: „Es hört sie jeder“. Weil dieser Prozess keines großen Vorlaufs bedarf, sondern bedeutet, sich auf Vernunft, Herz, Verstand zu verlassen.

Mögen Sie die „Iphigenie“?

Als ich das Stück vor 15 Jahren in der Schule gelesen habe, fand ich es langweilig und naiv. Erst in den letzten Jahren ist mir aufgefallen, wie viel zwischen den Figuren passiert. Wenn man das nur auf diese Ideen, wie sie zu Goethes Zeiten aufgenommen wurden, beschränkt, würde das nicht tief genug greifen. Ich glaube, man muss mitdenken, was seitdem passiert ist. Die Menschheit muss immer wieder an diese Prinzipien erinnert werden. Dafür eignet sich „Iphigenie auf Tauris“ sehr gut.

Könnte das nicht auch ein moderneres Stück leisten?

Was ich an „Iphigenie“ toll finde ist, dass sie fast die ganze Menschheitsgeschichte in sich trägt, von der Antike über die Aufklärung bis heute, weil es gar nicht konkret auf eine bestimmte Gegebenheit eingeht, sondern Grundprinzipien wahrnimmt. Zum anderen finde ich die Sprache toll, weil sie etwas sehr „Reines“ hat. Als Zuschauer wird man auch über die Sprache in eine fremde Welt hineingeführt. Schon allein dadurch kann sich eine ganz andere Beteiligung des Zuschauers einstellen als bei einem zeitgenössischen Stück. INTERVIEW: ANDREAS SCHNELL

Premiere: Samstag, 20 Uhr, Studio, Rheinstr. 91, Wilhelmshaven. Internet: www.landesbuehne-nord.de