Die sind allen anderen voraus

WAHLPROGRAMME (2) Das 100-Punkte-Programm der CDU ist käuflich am Kiosk zu erwerben. Falls der Kioskbesitzer nicht für die SPD ist. Man liest es wie einen Roman. Am Ende darf man die CDU zu den guten Parteien zählen

Bei aller Sachlichkeit lässt das Programm aber auch Platz zum Träumen

VON DETLEF KUHLBRODT

Die Berliner Christdemokraten verkaufen ihr 100-Punkte-Programm am Kiosk für 50 Cent. Viel wurden sie dafür verspottet, obgleich es eine gute Idee ist. Ein jeder ist doch tagtäglich genervt von all der Werbung, die den Briefkasten verstopft. Trotzdem hab ich mich lange nicht getraut, am Kiosk das CDU-Programm zu verlangen. Endlich fasste ich mir aber ein Herz und fragte danach.

Der nette Kioskhändler („Camel-oben-ohne“) hatte aber nur das SPD-Programm – kein Wunder, in seinem Schaufenster machte er ja auch Reklame für den SPD-Kandidaten Muharrem Arras, der ein guter Typ sei, wie er aus persönlicher Erfahrung zu berichten wusste. So ging ich ins Netz und lud mir das Wahlprogramm herunter.

Ich habe – vielleicht wegen meines Alters – inzwischen den Eindruck, dass es viele „gute“ Parteien gibt. Zum Beispiel: SPD, Grüne, Linke, Piraten, APPD. Die Frage ist: Gehört auch die CDU mittlerweile zu den guten Parteien? Auf der ersten Seite ihres Berliner Programms, im Vorwort sozusagen, gibt es die ersten Highlights. Frank Henkel, der Kandidat, „el capitano“, spricht seinen Kernsatz: „Ich will da aufräumen, wo Berlin nicht funktioniert.“ Das verträgt sich gut mit Renate Künasts „Da müssen wir ran“. Ursula von der Leyen macht den LeserInnen Lust auf die Lektüre: „Lesen Sie bitte das klasse Wahlprogramm der Berliner CDU. Die sind allen anderen voraus.“ Sie deutet damit aber auch ein teleologisches Geschichtsbild an, dem sich von den „guten Parteien“ meines Wissens nur die APPD nicht verpflichtet fühlt.

Die wohltuende Sachlichkeit, um die sich das Programm bemüht, ist nicht kalt. Vielmehr sind die Zeiten, in denen man die politischen Mitbewerber von APPD, SPD, Grünen und Linke ein bisschen verteufelte (wie jene wiederum die CDU), glücklicherweise vorbei. Mittlerweile ist die CDU souverän genug, anzuerkennen, dass auch die anderen Parteien erfolgversprechende Lösungen haben, und behauptet lediglich, in Besitz der „erfolgversprechendsten Lösungen“ zu sein. Bei aller Sachlichkeit lässt ihr Programm aber auch Platz zum Träumen: „Stellen Sie sich einmal vor, die Probleme Berlins wären beseitigt, die Blockaden aufgehoben und alle Berlinerinnen und Berliner könnten ihre Kraft voll entfalten.“ Zu weit sollen die Träume aber doch nicht fliegen: „Dann“, so schließt das Zitat, „wären Gefahren gebannt und Ungerechtigkeiten reduziert.“

Ungeübt im Lesen politischer Programme liest man es wie einen Roman; die Protagonisten – 100 Lösungen nebst vielen Bonuslösungen – werden einem beim Lesen vertraut. Man lernt ihre kleinen Macken und Vorzüge kennen und meint auch, unterschiedliche Parteiflügel erahnen zu können. Wie die szenefreundlichen Bar25-Freaks der CDU, mit denen sich die Legalisierung von Cannabis vermutlich machen ließe, und die ängstlichen Sicherheitsfans, die für eine u.a. auch touristenfeindliche Nulltoleranzpolitik à la Giuliani eintreten. Als Demokrat sieht man natürlich auch, dass die Traditionssicherheitler nicht ganz unwichtig sind, die „die Ängste der Einheimischen in der Integrationsdebatte“ berücksichtigt wissen wollen.

Die diesbezügliche Passage, die vermutlich mit Bürgerbeteiligung formuliert wurde, liest sich zwar ein bisschen komisch, aber entspricht der Kreuzberger Alltagserfahrung. Zunächst wird eine Umfrage zitiert, die auf arge Vorurteile gegenüber Migranten schließen lässt, dann heißt es: „Viele Mitbürger mit diesen Besorgnissen fühlen sich und die deutschen Interessen politisch nicht vertreten. Wagen sie, ihre Besorgnisse zu äußern, müssen sie befürchten, dass sie deswegen verlacht und verhöhnt oder moralisch verurteilt werden. Sie schweigen daher, unterdrücken ihre Besorgnisse und ziehen sich zurück, bis sich ihre Stimmung in Umfragen wie den vorgenannten entlädt. Das können wir nicht wollen.“

Ich auch nicht. Und deshalb ist es gut, dass die CDU in meinem Bezirk den türkischstämmigen Ertan Taskiran aufgestellt hat, in ihrem Programm Vorurteile zurechtrückt, häufig auf die Leistungen von Migranten verweist, migrationspolitische Forderungen stellt, die vernünftig klingen und sich in ihrem humanistischen Kern, würde ich mal sagen, auch nicht grundsätzlich von denen der demokratischen Mitbewerber unterscheiden.

Das Wahlprogrammbüchlein der CDU ist also gut und teils auch unterhaltend. Frank Henkel ist es gelungen, seine Auffälligkeitsnachteile in Vorteile zu verwandeln. Man freut sich an schönen Wörtern wie „Instandhaltungsrückstau“ und „Ausgabebedarfe“, bewundert die ökonomischen Kernkompetenzen und findet, wenn’s abends spät geworden ist, viele Überschriften sehr gut und spricht sie leise mit: „Neue Züge braucht die S-Bahn“, „Hundehaufen und kein Ende“ usw. Manchmal gibt es auch „Aha-Effekte“. Das Sicherheitsprogramm ist zwar nicht so gut, die APPD-nahe Forderung „Strafvollzug mit Handy und Drogen“ aber bedenkenswert. Vielleicht auch nicht gleich den ganzen Tag über, abends würde das aber sicher zu mehr Entspanntheit in unseren Haftanstalten führen.

Nur die Dramaturgie leuchtet mir nicht ganz ein. Klar, dass man es am Anfang erst mal krachen lässt, mit seinen wirtschaftlichen Kernkompetenzen prahlt usw. Aber gegen Ende plätschert das Wahlprogramm doch ein wenig vor sich hin. Es schließt etwas lappalienhaft mit dem Punkt 100: „Hallenbäder zu lange geschlossen“.